Montag, 26. Januar 2004
Das Land danach IV
Irgendwann war er dann doch eingeschlafen. Als er aufwachte, war es hell; Regentropfen perlte die Scheiben hinunter, aber es trommelte nicht mehr auf das Dach. Swenja lag halb auf seinem Arm, und Anne lag mit ihrem Rücken an ihn gedrängt. Sonst konnte er beim Schlafen solche Enge nicht ertragen, jetzt genoß er es. Er schloß wieder die Augen und spürte die Geborgenheit, die von den anderen ausging.
Irgendwann ging es nicht mehr, er musste sich räkeln. Er zog seinen Arm unter Swenjas Kopf weg. Sie wachte auf und sah ihn an. Er strich ihr über den Kopf und lächelte sie an. Er flüsterte: „Mein Arm ist leider eingeschlafen, tut mir leid.“
Sie lächelte nun ebenfalls und schloß wieder die Augen.
Vielleicht eine halbe Stunde später kam Bewegung in den Menschenknäul. Petra streckte sich. Hanna war gerade dabei, Micha zur Seite zu schieben. Nick rieb sich die Augen: „Oh Mensch, war das eine Nacht!“
Petra nickte: „Die werde ich so schnell nicht vergessen!“
Neben Nick bewegte sich Anne, wälzte sich herum und machte die Augen auf. Im ersten Moment schien sie etwas irritiert zu sein. Dann glitt der Anflug eines Grinsens über ihr Gesicht und sie fragte: „Hat schon jemand Kaffee gekocht?“
„Wie dumm von mir, dass ich nicht schon aufgestanden bin, um Eurer Hoheit die Tasse zu reichen.“ Nick war erstaunt über sich selbst, fürchtete aber im nächsten Moment, nicht verstanden zu werden. Aber Anne grinste nun richtig und sagte: „Das üben wir aber noch!“
Hanna und Bernd öffneten die Tür und stiegen aus. Kühle Luft kam herein. Nick hätte sich am liebsten wieder im Schlafsack verkrochen. Zumal er überflüssigerweise leichte Hemmungen hatte, nur mit Slip bekleidet aus dem Schlafsack zu steigen. Als ihm aber einfiel, dass Anne auch nicht viel mehr anhaben konnte, stand er schnell auf, kletterte aus dem Bulli und suchte nach trockenen und vor allem wärmeren Sachen.

Komplett angezogen trat er aus dem Vorzelt heraus auf den Platz, wo schon Petra, Hanna und Bernd auch in dickere Sachen gehüllt standen und in die Gegend blickten. Die Landschaft schien sich verändert zu haben und dann wieder doch nicht. Vielleicht lag es daran, dass es bedeckt war und überall am Horizont dicke Wolken hingen. Und da waren zahlreiche Wunden, die das Gewitter in der Nacht geschlagen hatte. Bäume waren von Blitzen gefällt, Büsche vom Wind abgeknickt. Etwa 100m weiter hatte eine ganze Buschgruppe gebrannt. Nick wurde es wieder bewußt, was ihn auch gestern irritiert hatte: Es waren kaum Spuren der Zivilisation zu erkennen.
„Trotz allem, ich habe Lust auf ein gutes Frühstück!“ Petra brachte sie wieder ins Hier und Jetzt zurück und sprach allen aus der Seele. Mit Feuereifer machten sie sich daran, ein ansehnliches Frühstück mit viel heißem Kaffee zu zaubern. Es war, als hätte die Angst der letzten Nacht alle sehr hungrig gemacht. Sie aßen schweigend, die einen waren zum Reden zu müde, die anderen hingen ihren Gedanken nach. Schließlich waren alle gesättigt, Micha spielte mit den verkohlten Resten von Nicks Zelt, und Swenja stellte die Frage, die alle im Kopf hatten: „Und was machen wir jetzt? Müssen wir nicht nach dem nächsten Ort suchen?“
„Sicher, das ist das Wichtigste“, antwortete ihr Petra.
Auch Bernd nickte: „Wir werden am besten einfach losfahren, solange, bis wir einen Ort finden.“
„Oder der Sprit ausgeht“, lies sich Anne vernehmen.
„Ich glaube, das Risiko müssen wir eingehen. Es wird uns gar nichts anderes übrigbleiben“, stimmte auch Nick den anderen zu.
„Dann sollten wir gleich aufbrechen, damit wir möglichst weit kommen.“ Anne stand schon auf und begann das Geschirr zusammenzuräumen.
Ziemlich schnell war alles verstaut, Nick schaute noch mal auf die verkohlten Trümmer seines Zeltes und stieg zu Anne und Petra in den Bulli.

Der Weg war einförmig. Ein schmales Asphaltband, hin und wieder mit Schlaglöchern, rechts und links Büsche, Bäume und Heidelandschaft oder jedenfalls so eine Art. Desöfteren mussten sie anhalten, weil ein Ast auf dem Weg lag. Einige Male mussten sie alle zupacken und ihn mit vereinten Kräften zur Seite räumen. Zwischendurch krochen sie mit knapp 50 dahin. Anne saß am Steuer, mit den Ellbogen auf dem Lenkrad, ruhig ohne Hektik.
Nick brach das Schweigen: „Ist so ein Medizin-Studium eigentlich so schwierig, wie die Nichtmediziner immer glauben?“
Anne rollte etwas die Augen: „Ja und Nein. Ja, weil ich, wenn ich mal wieder eine fleißige Phase habe, nichts anderes tun kann, und Nein, weil alle nur mit Wasser kochen, auch die Halbgötter in Weiß!“
„Das glaub ich Dir sofort. Gerade die, die besonders unfehlbar erscheinen, sind bei näherem hinsehen auch nur einfache Menschen. Das sehe ich ständig bei meinem Chef.“
„Da lob ich mir unsere Oberschwester. Die weiß, dass sie nicht alles weiß, obwohl sie erstaunlich viel weiß!“ Über Petras Einwand mussten alle drei lachen.
„Wie lange studierst Du schon?“
„Oh je, willst Du das wirklich wissen? Fast vier Jahre habe ich gebraucht, um das Physikum zu überstehen.“
„Und vorher?“
„Vorher? Wie alt schätzt Du mich denn?“
„Sagen wir mal sechsundzwanzig.“
„Bingo, fast richtig. Ein Jahr mußt Du noch drauflegen. Tja und vorher war ich Hausfrau.“
Nick blickte sie zweifelnd, oder besser gesagt verblüfft an.
„Ja, wirklich. Ich habe zwei Wochen nach dem Abi geheiratet und mich drei Jahre später wieder scheiden lassen. Glücklicherweise habe ich von ihm kein Kind gekriegt.“
„War er so schlimm?“
„Nicht richtig schlimm, ich hab mich einfach nur total geirrt. Ich habe mich blenden lassen von seiner Fassade. Ich fand ihn witzig und stark, romantisch und vor allem ehrlich. Nur als ich dann feststellte, dass er mich ständig anlog, gingen mir langsam die Augen auf. Dass er gar nicht so stark war, hätte ich noch verkraften können, aber dass er mir immer nur etwas vorspielte, habe ich nicht ausgehalten. Na ja, und dass ich nicht zur Nur-Hausfrau tauge, habe ich dann auch schnell gemerkt.“
„Konntest Du etwa seine Socken nicht vernünftig stopfen?“
„Ne, aber später dann sein Maul!“
„Das glaub ich Dir aufs Wort.“
Nick glaubte schon, etwas zu weit gegangen zu sein, aber Anne nahm seinen Kommentar grinsend auf. Auch Petra lächelte und meinte: „Es macht ja irgendwie richtig Spaß, Euch zuzuhören!“
Für einen Moment schwiegen alle drei und blicken intensiver nach draußen. Das Wetter hatte sich etwas gebessert. Die Wolken rasten nicht mehr so schnell und ließen ab und zu sogar die Sonne durch. Das Thermometer zeigte allerdings weiterhin nur 9 Grad, nach den letzten heißen Tagen kam ihnen diese Temperatur besonders eisig vor.
Nach ein paar hundert Metern hielt der Bulli vor ihnen an einer Weggabelung plötzlich an. Bernd stieg aus und winkte ihnen. Sie verließen ebenfalls den Bulli und sahen, was Bernd so interessant fand: Ein verwaschenes Schild lag dort auf dem Weg. Der Pfeiler des Schildes war völlig unter dem Gestrüpp am Rand der Straße verschwunden. Sie zerrten es heraus und sahen es sich genauer an. Die Farbe war größtenteils abgeblättert. Zu erkennen waren nur noch wenige Buchstaben: „...nde..it......7.km“.
„Hol mal schnell die Karte!“ rief Petra Anne aufgeregt zu. Anne lief sofort zum Auto und wühlte in den Karten herum. Mit einem ganzen Stapel kam sie wieder. Sie griffen sich zuerst die Karte von der Gegend, wo sie meinten, sein zu müssen.
„Gandenitz!“ Petra hatte den Ort zuerst entdeckt. „Das ist ja gar nicht weit weg von Warthe.“
„Aber was ist das für eine Entfernungsangabe?“ fragte Nick. Er kratzte auf dem Schild herum. „Habt Ihr vielleicht einen Bleistift?“
Petra kramte in ihrer Jackentasche und holte einen Stummel heraus.
Anne nahm ihr den Stummel aus der Hand und strich damit über das Schild. Langsam wurde eine 4 sichtbar.
„Was, 47 km? Das kann ja kaum sein. In welcher Richtung sind wir denn dann?“ Petra suchte auf der Karte herum. Die andern wussten auch keinen Rat. Nach der Karte konnte es dieses Schild gar nicht geben, weil die nächsten Orte viel dichter lagen.
„Wir sollten trotzdem versuchen, dem Schild zu folgen!“, meinte Bernd. „Wir brauchen ja schließlich irgendeinen Anhaltspunkt.“
Nick untersuchte währenddessen den Wegrand und schob das Gestrüpp mit dem Fuß beiseite. Er fand das abgebrochene Ende des Pfeilers. Er nahm das Schild, um auszuprobieren, in welcher Stellung es paßte.
„Hier hat das Schild gestanden, also zeigt es in...“ Er brach ab, weil es nicht paßte. Er zeigte in die Richtung, und die anderen wussten, warum er nicht zu ende gesprochen hatte. Das Schild hatte nicht auf einen Weg, sondern ins Leere gezeigt.

„Ich komme mir langsam ziemlich verarscht vor!“ Petra war richtig ärgerlich. „Ich möchte mal wissen, was hier los ist. Seit anderthalb Tagen haben wir keinen Menschen mehr gesehen, wir wissen nicht, wo wir sind, und das Wetter spielt auch verrückt. Das soll mal noch einer begreifen.“
Die anderen sahen sich betreten an. Keiner wusste eine Antwort, selbst von Anne kam kein Spruch. Mischa schaute die Erwachsenen ängstlich an, drängte sich an seine Mutter und scharrte mit einem Fuß.
Swenja fragte vorsichtig: „Habt Ihr echt keine Idee, wohin wir fahren müssen?“
Bernd raffte sich als erster zu einer Antwort auf: „Nein, wir wissen es nicht. Aber wir sollten hier trotzdem nicht Wurzeln schlagen. Laßt uns versuchen, in eine Himmelsrichtung zu fahren. Westen kann dabei nicht schaden, vielleicht kommen wir dann ja irgendwann nach Hause.“
Die anderen nickten. Nick ebenso, obwohl er gleichzeitig dachte: Was soll ich zu Hause, ich fühle mich hier sehr wohl. Aber die anderen hätten es wahrscheinlich nicht verstanden, wenn er es laut ausgesprochen hätte.

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