Sonntag, 4. Januar 2004
Das Land danach II
II

Als sein Tacho 110 Kilometer anzeigte, wurde er langsam unruhig, weil er immer noch keinen Campingplatz oder irgendeine Ansiedlung entdeckte. Er war zwar eigentlich noch gar nicht müde, aber unendlich lange wollte auch nicht mehr weiterfahren. Dem Sonnenstand nach konnte es allerdings nicht später als drei sein.
Mit einem Mal bemerkte er Bewegung vorne auf der Straße. Zuerst schien es nur das Flimmern zu sein. Aber dann hüpfte ein Ball über den Weg, und ein Junge lief hinterher. Mit dem Ball in der Hand verschwand der Junge wieder aus seinem Blickfeld.
Nick trat kräftiger in die Pedalen und erreichte eine kleine Ausbuchtung der schmalen Straße, auf dem zwei Camping-Busse neuerer Bauart standen, daneben eine kleine Gruppe von Leuten auf Campingstühlen: drei Frauen und ein Mann zwischen 25 und 35, ein etwa 10jähriger Junge - er war eben dem Ball hinterhergelaufen - und ein vielleicht 13jähriges Mädchen. Alle sahen sofort erwartungsvoll zu ihm hin, als er sein Rad abbremste.
„Hallo, kennt ihr euch hier aus? Ich suche einen Campingplatz oder zumindest einen Ort.“
Eine der Frauen, etwa in seinem Alter mit einem herausfordernden Blick und hellblonden Haaren, die sich an keine Regeln hielten, antwortete ihm: „Hallo, ich fürchte, wir haben das gleiche Problem wie du.“
Die dunkelhaarige Frau neben ihr bestätigte: „Wir hatten wohl schon gerade die Hoffnung, dass du uns weiterhelfen könntest“.
Der Mann machte eine einladende Geste: „Setz dich doch einfach!“
Dankbar nahm er die Einladung an, parkte sein Rad, setzte sich auf eine Kiste und besah sich die Leute näher. Sie machten alle einen sympathischen Eindruck und auch einen etwas unsicheren. Offensichtlich waren sie ebenfalls froh, noch jemand getroffen zu haben. Der Mann schien ebenso wie die Frau neben ihm ein wenig älter als die beiden anderen Frauen zu sein. Sie blickten ihn neugierig an, was Nick etwas verunsicherte. Während der Junge mehr mit dem Ball beschäftigt war und unbefangen schien, saß das Mädchen etwas beklommen zwischen den Erwachsenen.
Nick hatte irgendwie das Bedürfnis, sich vorzustellen, und sagte seinen Namen. Die anderen taten es ihm nach, er war allerdings nicht in der Lage, sich die Namen sofort richtig zu merken bis auf Swenja, den Namen des Mädchen, weil er diesen Namen schon immer sehr gemocht hatte, und Anne, die Frau mit dem Wuschelkopf. Sie machte auf ihn den Eindruck, als sei sie etwas unbefangener als die anderen.
Nick selbst war unsicherer, als er es hätte sein müssen. So komisch es war: Immer, wenn er Leute traf, die ihm sehr sympathisch waren, fühlte er sich angespannt und verkrampft. Vielleicht weil er fürchtete, selbst nicht so sympathisch zu erscheinen. Oder weil es ihm bei solchen Leuten wichtiger war, einen positiven Eindruck zu hinterlassen. Bei anderen war ihm das eher egal.
Schließlich gab er sich einen Ruck und sprach das aus, was ihn eigentlich gerade am meisten beschäftigte: „Wißt Ihr denn ungefähr, wo wir hier sind?“, hakte er noch einmal nach, weil ihn die Begrüßung etwas irritiert hatte.
Der Mann, Nick erinnerte sich an den Namen Bernd, antwortete ihm: „Nein, wir wissen es noch nicht mal ungefähr. Wir sind diese Straße jetzt bestimmt 3 Stunden lang gefahren. Anfangs dachten wir, sie führe nach Warthe. Aber da hätten wir schon vor drei Stunden ankommen müssen. Jedenfalls sind wir ratlos und überlegen, was wir jetzt tun sollen.“ Er griff nach der Karte die eine der andere Frauen in der Hand hielt, faltete sie auf und zeigte ihm die Strecke, die sie eigentlich fahren wollten.
„Wir sind von Fürstenberg aus losgefahren, hinter Lychen sind wir dann abgebogen, haben kurz am Großen Küstrinsee gehalten. Ab da war alles nicht mehr so wie auf der Karte.“
Nick zeigte seinen Weg: „Ich bin heute morgen an der Müritz hier bei Rechlin losgefahren, ja und hinter Lychen genau wie Ihr abgebogen. Dann habe ich ein paar kleinere Straßen erwischt und die Orientierung verloren.“ Er stockte, sah noch mal auf die Karte: „Sehr merkwürdig. Auf der Karte sieht es so aus, als wären es höchstens achtzig Kilometer. Mein Tacho zeigt aber hundertzehn an.“
Anne meldete sich zu Wort: „Wie, du bist seit heute morgen schon hundertzehn Kilometer gefahren? Es ist doch noch recht früh. Bist du so schnell?“
Nick wusste sofort, dass es keine Bewunderung war, die Anne dies fragen ließ. Er stand auf und ging zu seinem Rad, sah auf den Tacho und schüttelte den Kopf. „Ich bin mir völlig sicher, dass ich gegen neun Uhr auf dem Fahrrad saß. Und der Tacho zeigt eine Durchschnitts­geschwin­dig­keit von vierzehn Stundenkilometern an. Also müßte ich ungefähr acht Stunden unterwegs gewesen sein.“ Er blickte zum Himmel. „Aber, es sieht nicht so aus, als wäre es fünf Uhr.“
Der zehnjährige Junge kuschelte sich an Hanna, der Frau neben Bernd, offensichtlich seine Mutter, und schaute sie ängstlich an. Swenja guckte Nick ungläubig an: „Es ist auch nicht fünf, sondern halb zwei.“
Nick zuckte mit den Schultern und setzte sich wieder. Er war reichlich verwirrt, aber sehr froh, mit diesem merkwürdigen Problem nicht allein zu sein.
Petra, die Frau neben Anne, blickte fragend in die Runde: „Und was machen wir jetzt? Sollten wir nicht einfach weiterfahren? Da muß doch bald ein Ort oder wenigstens ein Schild kommen.“
Anne pflichtete ihr bei, und auch die anderen beiden, Bernd und Hanna, nickten.
„Willst Du Dich vielleicht anschließen?“ fragte Petra Nick. Dieser fand den Gedanken grundsätzlich nicht verkehrt. Er dachte daran, dass er ja eigentlich für sich bleiben wollte. Er suchte nach einem Kompromiss. „Och, ein bißchen hätte ich noch Lust zu radeln. Vielleicht fahre ich einfach schon mal vor. Ihr müßt ja noch Eure Sachen einpacken. Wenn ich an eine Weggabelung komme, warte ich auf Euch.“
Die anderen nickten zustimmend, und er stand auf, setzte sich auf sein Fahrrad und fuhr los. „Sollen wir Dein Gepäck mitnehmen?“ fragte Bernd noch hinterher. Nick schüttelte den Kopf. „Danke, geht erstmal so. Bis nachher.“
Er winkte, warf noch einen Blick auf die sechs und blickte nach vorne.

Der Weg war immer noch so glatt und gerade, dass er sich nicht sehr darauf konzentrieren müßte, und so kam er ins Träumen. Er merkte gar nicht, wie die Zeit verging. Als er mal wieder - eher zufällig - auf den Tacho sah, war er seit der Begegnung mit den anderen schon zwanzig Kilometer gefahren. Insgesamt also schon hundertdreißig Kilometer. Das schien seine Rekordetappe zu werden.
Plötzlich merkte er, wie das Rad schleuderte, ohne dass der Weg schlechter geworden wäre. Es war, als zöge jemand von schräg hinten an seinem Fahrrad. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.

Zuerst hörte er nur gedämpfte Stimmen. Irgendwelche Hände tasteten an seinem Körper herum. Ein stechender Schmerz zeigte ihm die Position seines Kopfes an. Langsam öffnete er die Augen und blickte in fast vertraute Gesichter: Bernd, Petra und Hanna knieten neben ihm. Anne, Swenja und Micha standen dahinter. Er stellte fasziniert fest, dass ihm alle Namen wieder eingefallen waren. Jetzt überlegte er nur noch, woher er die sechs kannte. Da fiel ihm der ganze Tag wieder ein: die Merkwürdigkeiten, die Suche nach dem nächsten Ort.
„Hallo, Nick, bist Du wieder klar?“ Petra hatte ihn angesprochen. Er ging im Geiste kurz seine Verfassung durch und versuchte zu antworten: „Oh ja, ich glaube so einigermaßen. Nur Kopfschmerzen habe ich.“
„Du blutest ja auch“, ließ sich Micha triumphierend aus dem Hintergrund vernehmen.
„Aber offensichtlich bin ich ja noch nicht verblutet.“ Die anderen quittierten seinen Humor dankbar mit Gelächter und entspannten sich.
„Was ist passiert?“, wollte Bernd wissen.
„Wenn ich das wüsste. Irgendwie ist mir schwarz vor den Augen geworden, und dann habe ich einen Abgang über den Lenker gemacht.“
„Das sieht mensch Deinem Fahrrad leider an; das Vorderrad kannste vergessen.“
„Na prächtig!“ Nick’s Erleichterung machte einer gehörigen Portion Frust Platz. Hier sollte die Tour also schon zu Ende sein.
„So wie die Dinge hier liegen, haben wir hier ja eine große Auswahl an Fahrradgeschäften, die Dein Problem schnell erledigen werden“, ließ sich Anne aus dem Hintergrund vernehmen.
Nick war erstaunt, dass er so gut kontern konnte: „So schlimm kann die Lage ja noch nicht sein, wenn Du immer noch einen Spruch parat hast!“
Das ließ Anne erstmal verstummen, und Bernd schaltete sich ein.
„Es ist zwar noch nicht schlimm, aber verdammt merkwürdig.“
Bevor Nick genauer fragen konnte, machten sich Hanna und Petra über seinen Kopf her und legten ihm einen ordentlichen Verband an, nicht ohne ihm dabei wehzutun. Sein Aufstöhnen kommentierte er persönlich: „An mir ist wohl kein echter Indianer verloren gegangen.“
Hanna murmelte daraufhin nur: „Als wenn es darauf ankäme.“
Plötzlich fühlte sich Nick - trotz der seltsamen Umstände - unglaublich wohl. Ob es die Leute waren oder sein hoher Endorphinspiegel im Gehirn, hätte er allerdings nicht beantworten können. Sein Bedürfnis allein zu sein, war jedenfalls auf den Nullpunkt gesunken.
„Wie spät ist es eigentlich?“ fragte Nick nach einem Blick auf die tiefstehende Sonne.
„Kurz nach sieben,“ unterrichtete ihn Petra.
Nick staunte: „So schnell wie ich heute Vormittag war, so langsam war ich jetzt. Zwanzig Kilometer in fünf Stunden sind nicht gerade hitverdächtig, zumal ich keine längere Pause gemacht habe.“
„Aber vielleicht hast Du eine Weile hier rumgelegen“, gab Hanna zu bedenken. „Wir sind gegen halb drei losgekommen und waren völlig erstaunt, Dich erst jetzt zu finden. Obwohl mir die Zeit nicht so lange vorgekommen ist“
„Wißt Ihr schon, was Ihr jetzt macht?“
„Uns ein lauschiges Plätzchen suchen, etwas essen und übernachten“, klärte Petra ihn auf.
„Wenn Ihr nichts dagegen habt, schließe ich mich Euch an“, sagte Nick.
„Dir wird kaum etwas anderes übrigbleiben.“

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Okay, hast mich
gefangen! Will wissen, wie's weitergeht!

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