Samstag, 3. Januar 2004
Das Land dahinter - zur Zeit danach I
tobyyy, 22:23h
Wann es Nick aufgefallen war, dass ihm schon lange kein Auto mehr entgegengekommen war, wusste er später nicht mehr. Irgendwann freute er sich darüber, das erste Mal auf seiner Radtour eine wirklich ruhige Straße erwischt zu haben. Die Tage zuvor waren ihm selbst auf Nebenstrecken immer wieder Autos begegnet, die meistens mit hoher Geschwindigkeit fuhren, so dass er manchmal sogar auf den Seitenstreifen ausweichen musste.
Schlagartig wurde ihm klar, dass er seit einigen Stunden überhaupt keine Spuren menschlichen Lebens mehr registriert hatte. Da war nur die Straße: ein schmales Band aus Asphalt oder Beton, erstaunlich glatt und gänzlich ohne Schlaglöcher. Ein Umstand, der in dieser Ecke des Landes gerade auf Nebenstraßen schon ungewöhnlich war. Dabei sah die Straße gar nicht so neu aus; ihr undefinierbares Grau hatte Flecken, der Rand war von Gräsern und Kräutern überwuchert. Aber das Einzige, was ihm gerade wichtig erschien: Sie war ideal zum Rad fahren.
Er war morgens zeitig aufgebrochen zur sechsten Etappe seiner Radtour, die ihn wieder achtzig bis hundert Kilometer nach Nordosten führen sollte.
Vormittags hatte er in einem kleinen Ort, dessen Namen er nicht mitbekommen hatte, eingekauft. Der Edeka-Laden hatte nur noch ein begrenztes Sortiment, aber immerhin ein paar Konserven, Mineralwasser und Brot. Merkwürdigerweise hatte Nick keine aktuelle Tageszeitung gesehen. Er hatte den Mann an der Kasse schon danach fragen wollen. Doch hatte der den Eindruck gemacht, mehr gestern als heute zu leben.
Nachdem er den Ort hinter sich gelassen hatte, war er auf der Suche nach einer ruhigen Strecke ein paar Mal abgebogen und wusste nun nicht mehr ganz genau, wo er sich befand. Nur am Stand der Sonne sah er, dass die Richtung nach wie vor stimmte.
Kurz vor mittag hatte er eine Rast gemacht und sich ins Gras gesetzt. Dabei war ihm plötzlich etwas schwindlig. Es war als bewege sich der Boden. Nick schob es auf die Sonne und den vielleicht zu niedrigen Blutzuckerspiegel. Er aß einen Apfel und schlief eine halbe Stunde im Gras. Danach fühlte er sich wieder fit und fuhr weiter.
Inzwischen, vielleicht zehn Kilometer weiter, vermisste Nick plötzlich die Kiefern. Eigentlich fehlte ihm zuerst ihr harziger Geruch, der für ihn immer ein typischer Urlaubsgeruch war: harzige Kiefern in trockener Hitze wie in Frankreich oder Portugal.
Aber jetzt fielen ihm dort andere Bäume auf, die ihm nicht bekannt waren. Sie erinnerten ihn an Ginkgo-Bäume, obwohl ihre Blüten nicht dazu paßten. Sie waren gelblich-weiß und erinnerten an Kirschblüten. Es mussten zumindest Rosaceen sein. Er wurde neugierig, aber da sein Fahrrad gerade so schön fuhr, mochte er nicht anhalten. Er wollte sie sich bei einer späteren Rast einmal genau anschauen.
Der Blick auf den Tacho sagte ihm, dass er schon fast achtzig Kilometer gefahren war. Erstaunlich viel dafür, dass es erst früher Nachmittag war. Er hatte eigentlich noch gar keine Lust, sich nach einem Campingplatz umzusehen. Ohnehin war ihm nicht so recht klar, wo es hier einen geben sollte. Schilder hatte er schon eine Weile keine mehr gesehen. So konnte er nur weiterfahren.
Ans Umkehren dachte er jedenfalls nicht. Nick wollte nicht zurück. Schließlich versuchte er, den Frust zurücklassen, seine Freundin, die andere Männer interessanter fand, seinen Chef, der ihn ständig zur Schnecke machte und mit dessen Einstellungen er immer weniger zurechtkam.
Es nervte ihn, dass ihm das alles plötzlich einfiel. Die letzten Tage hatte er sich so frei gefühlt, hatte er soviel geträumt und geschaut, dass er die Realität zu Hause gut verdrängt hatte.
Nun schaute er wieder, weil sich die Landschaft abermals kaum merklich verändert hatte. Statt der ginkgo-ähnlichen Bäume waren es nun Sträucher und Buschgruppen, die die Landschaft prägten, dazwischen Grasbülten und kleine Tümpel. Das war genau die Landschaft, die er liebte. Er blickte fasziniert nach links und rechts. Schließlich hielt er an, um seinen Fotoapparat auszupacken. Er ging ein Stück vom Weg weg und machte ein paar Fotos, einmal die Landschaft mit dem Weitwinkel, dann ein paar weiter entfernte Details mit dem 300er. Er schaute sich auch einzelne Pflanzen näher an und war überrascht, dass es sie nicht genau bestimmen konnte. Bis zur Familie kam er noch, vielleicht auch bis zur Gattung; aber die Arten selbst waren ihm unbekannt. Kurz bereute er es, kein Bestimmungsbuch dabeizuhaben. Aber schließlich hatte er nicht an seinen Job erinnert werden wollen.
Plötzlich war ihm, als würde er ein Auto hören. Da sein Fahrrad mitten auf der Straße stand, lief er eilig hin, um es zur Seite zu schieben. Er blickte die Straße entlang, in beiden Richtungen sah er aber nichts außer dem Flimmern der Hitze auf dem geraden Band der Straße. Vermutlich ein Trecker, dachte er, oder der Wind trug das Geräusch von einer ferneren Straße herüber.
Nick setzte sich an den Straßenrand, trank etwas und aß einen Apfel. Wieder meinte er, ein Motorengeräusch zu hören, hinter sich, lauter werdend. Der hastige Blick zurück zeigte eine leere Straße.
Er überlegte schon, ob das die Halluzinationen eines beginnenden Sonnenstichs waren, und bereute es, keinen vernünftigen Hut mitgenommen zu haben. Aber die letzten Tage war es nicht weniger heiß gewesen, und es hatte ihm nichts ausgemacht. Nachdenklich setzte er sich wieder aufs Rad und fuhr weiter.
Die Landschaft blieb so romantisch bis zum Horizont - ungestört von jeglichen Zeichen der Zivilisation. Kein Getreidesilo, keine Hochspannungsmasten, die eigentlich überall gerade die besonders schönen Landschaften verschandelten, nur einzelne nicht sehr hohe Baumgruppen, die sich in der Ferne verloren. Er seufzte, weil er diesen Frieden seit Tagen oder vielleicht sogar schon seit Wochen gesucht hatte.
Schlagartig wurde ihm klar, dass er seit einigen Stunden überhaupt keine Spuren menschlichen Lebens mehr registriert hatte. Da war nur die Straße: ein schmales Band aus Asphalt oder Beton, erstaunlich glatt und gänzlich ohne Schlaglöcher. Ein Umstand, der in dieser Ecke des Landes gerade auf Nebenstraßen schon ungewöhnlich war. Dabei sah die Straße gar nicht so neu aus; ihr undefinierbares Grau hatte Flecken, der Rand war von Gräsern und Kräutern überwuchert. Aber das Einzige, was ihm gerade wichtig erschien: Sie war ideal zum Rad fahren.
Er war morgens zeitig aufgebrochen zur sechsten Etappe seiner Radtour, die ihn wieder achtzig bis hundert Kilometer nach Nordosten führen sollte.
Vormittags hatte er in einem kleinen Ort, dessen Namen er nicht mitbekommen hatte, eingekauft. Der Edeka-Laden hatte nur noch ein begrenztes Sortiment, aber immerhin ein paar Konserven, Mineralwasser und Brot. Merkwürdigerweise hatte Nick keine aktuelle Tageszeitung gesehen. Er hatte den Mann an der Kasse schon danach fragen wollen. Doch hatte der den Eindruck gemacht, mehr gestern als heute zu leben.
Nachdem er den Ort hinter sich gelassen hatte, war er auf der Suche nach einer ruhigen Strecke ein paar Mal abgebogen und wusste nun nicht mehr ganz genau, wo er sich befand. Nur am Stand der Sonne sah er, dass die Richtung nach wie vor stimmte.
Kurz vor mittag hatte er eine Rast gemacht und sich ins Gras gesetzt. Dabei war ihm plötzlich etwas schwindlig. Es war als bewege sich der Boden. Nick schob es auf die Sonne und den vielleicht zu niedrigen Blutzuckerspiegel. Er aß einen Apfel und schlief eine halbe Stunde im Gras. Danach fühlte er sich wieder fit und fuhr weiter.
Inzwischen, vielleicht zehn Kilometer weiter, vermisste Nick plötzlich die Kiefern. Eigentlich fehlte ihm zuerst ihr harziger Geruch, der für ihn immer ein typischer Urlaubsgeruch war: harzige Kiefern in trockener Hitze wie in Frankreich oder Portugal.
Aber jetzt fielen ihm dort andere Bäume auf, die ihm nicht bekannt waren. Sie erinnerten ihn an Ginkgo-Bäume, obwohl ihre Blüten nicht dazu paßten. Sie waren gelblich-weiß und erinnerten an Kirschblüten. Es mussten zumindest Rosaceen sein. Er wurde neugierig, aber da sein Fahrrad gerade so schön fuhr, mochte er nicht anhalten. Er wollte sie sich bei einer späteren Rast einmal genau anschauen.
Der Blick auf den Tacho sagte ihm, dass er schon fast achtzig Kilometer gefahren war. Erstaunlich viel dafür, dass es erst früher Nachmittag war. Er hatte eigentlich noch gar keine Lust, sich nach einem Campingplatz umzusehen. Ohnehin war ihm nicht so recht klar, wo es hier einen geben sollte. Schilder hatte er schon eine Weile keine mehr gesehen. So konnte er nur weiterfahren.
Ans Umkehren dachte er jedenfalls nicht. Nick wollte nicht zurück. Schließlich versuchte er, den Frust zurücklassen, seine Freundin, die andere Männer interessanter fand, seinen Chef, der ihn ständig zur Schnecke machte und mit dessen Einstellungen er immer weniger zurechtkam.
Es nervte ihn, dass ihm das alles plötzlich einfiel. Die letzten Tage hatte er sich so frei gefühlt, hatte er soviel geträumt und geschaut, dass er die Realität zu Hause gut verdrängt hatte.
Nun schaute er wieder, weil sich die Landschaft abermals kaum merklich verändert hatte. Statt der ginkgo-ähnlichen Bäume waren es nun Sträucher und Buschgruppen, die die Landschaft prägten, dazwischen Grasbülten und kleine Tümpel. Das war genau die Landschaft, die er liebte. Er blickte fasziniert nach links und rechts. Schließlich hielt er an, um seinen Fotoapparat auszupacken. Er ging ein Stück vom Weg weg und machte ein paar Fotos, einmal die Landschaft mit dem Weitwinkel, dann ein paar weiter entfernte Details mit dem 300er. Er schaute sich auch einzelne Pflanzen näher an und war überrascht, dass es sie nicht genau bestimmen konnte. Bis zur Familie kam er noch, vielleicht auch bis zur Gattung; aber die Arten selbst waren ihm unbekannt. Kurz bereute er es, kein Bestimmungsbuch dabeizuhaben. Aber schließlich hatte er nicht an seinen Job erinnert werden wollen.
Plötzlich war ihm, als würde er ein Auto hören. Da sein Fahrrad mitten auf der Straße stand, lief er eilig hin, um es zur Seite zu schieben. Er blickte die Straße entlang, in beiden Richtungen sah er aber nichts außer dem Flimmern der Hitze auf dem geraden Band der Straße. Vermutlich ein Trecker, dachte er, oder der Wind trug das Geräusch von einer ferneren Straße herüber.
Nick setzte sich an den Straßenrand, trank etwas und aß einen Apfel. Wieder meinte er, ein Motorengeräusch zu hören, hinter sich, lauter werdend. Der hastige Blick zurück zeigte eine leere Straße.
Er überlegte schon, ob das die Halluzinationen eines beginnenden Sonnenstichs waren, und bereute es, keinen vernünftigen Hut mitgenommen zu haben. Aber die letzten Tage war es nicht weniger heiß gewesen, und es hatte ihm nichts ausgemacht. Nachdenklich setzte er sich wieder aufs Rad und fuhr weiter.
Die Landschaft blieb so romantisch bis zum Horizont - ungestört von jeglichen Zeichen der Zivilisation. Kein Getreidesilo, keine Hochspannungsmasten, die eigentlich überall gerade die besonders schönen Landschaften verschandelten, nur einzelne nicht sehr hohe Baumgruppen, die sich in der Ferne verloren. Er seufzte, weil er diesen Frieden seit Tagen oder vielleicht sogar schon seit Wochen gesucht hatte.
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