Mittwoch, 11. Februar 2004
Das Land danach V
tobyyy, 22:46h
Sie stiegen wieder in die Bullis. Diesmal setzte sich Nick ans Steuer. Seine kurze, kaum ernstgemeinte Bemerkung, dass er ja seinen Führerschein gar nicht dabei habe, kommentierte Anne mit einem „Schwachsinn!“ - drastisch, aber realistisch.
Er brauchte eine Weile, um sich an das Fahren zu gewöhnen, da er etwas aus der Übung war und außerdem noch nie am Steuer eines Bullis gesessen hatte. Aber bald machte es ihm sogar ein bisschen Spaß, weil es überhaupt nicht stressig war und er sehr angenehm seinen Gedanken nachhängen konnte.
Nach einigen schweigsamen Minuten kramte Petra in den Kassetten und legte ein Band ein. Schon nach den ersten Takten Billy Joel zollte Anne gleich Beifall: „Oh ja, der kommt jetzt gut.“
Zwei, drei Stücke lang hörten sie der Musik zu und sahen sich die Landschaft an, die - außer der Straße - immer noch keine Spuren menschlicher Einflüsse zeigte. Da die Büsche über die Straß wucherten, konnten sie nur in die Ferne gucken, wenn sie über eine Kuppe fuhren.
„Wenn ich das in meinem Club erzähle...“
Anne und Nick verstanden Petras Spruch und lachten.
„Wahrscheinlich wird es keiner verstehen, was wir hier erleben“, meinte Anne. „Wir verstehen es ja selbst nicht. Aber diesen Zustand kenne ich zur Genüge aus meinem Studium.“
Nick grinste vor sich hin und dachte daran, dass er in diesem Urlaub gerade nicht Auto fahren wollte und vor allem eigentlich die Einsamkeit gesucht hatte. Jetzt saß er am Steuer eines Autos und musste mit zwei Frauen kommunizieren. Nein, „musste“ war der falsche Ausdruck. Er begann langsam wieder, Lust auf Kommunikation zu bekommen. Vielleicht noch nicht gleich die verbale.
Als wenn sie seine Gedanken gelesen hätte, fragte Petra die Frage, die ihm Anne am Vorabend schon gestellt hatte:
„Machst Du öfters Radtouren allein?“
Nick war es jetzt nicht mehr so unangenehm, darauf zu antworten.
„Nein, das ist das erste Mal. Ich hatte mal das Bedürfnis, mich nur mit mir selbst zu beschäftigen. Ich wollte mich nicht um die Befindlichkeiten anderer kümmern müssen.“
„Das ist aber Pech, dass Du es jetzt doch mußt!“ ließ sich Anne vernehmen.
„Nö, find ich nicht. In den letzten 24 Stunden habe ich festgestellt, dass mein Bedürfnis nach Einsamkeit mit der Qualität meiner Umgebung steht und fällt.“
Nick war fast genauso von seiner Formulierung beeindruckt, wie es offensichtlich die beiden anderen waren.
„Danke.“
Dieses eine Wort von Anne lief ihm wie ein Schauer den Rücken herunter. Er hatte es gar nicht so verklausuliert ausdrücken wollen, aber es traf die Sache auf den Punkt, und Anne hatte es verstanden. Und Petras Lächeln nach zu urteilen, das er bei seinem kurzen Blick zur Seite nicht übersah, diese auch.
Einer Gesprächspause vorbeugen wollend ließ Nick weiter seinen Gedanken freien Lauf: „Es ist faszinierend: Zu Hause war äußerlich alles klar. Ich wusste, wo ich hin musste bzw. sollte. Und darauf hatte ich keine Lust mehr. Hier weiß ich gar nichts mehr und finde gerade das sehr wohltuend.“
„War denn bei Dir wirklich alles so klar?“ fragte Anne.
„Nein, ich meinte ja nur äußerlich. Ansonsten war gar nichts klar. Meine Freundin hat mich vor zwei Wochen gerade derbe auf den Pott gesetzt und mir ein Ultimatum gestellt. Und an meinem letzten Arbeitstag eskalierte der Streit mit meinem Chef derart, dass er mir den Rat mit in den Urlaub gab, mich doch vielleicht nach einem andern Job umzusehen.“
„Oh jeh, das ist ja ganz schön heftig“, meinte Petra.
„Fand ich auch, inzwischen seh ich beides viel entspannter. Der Job war ohnehin nichts für mich. Die zwei Jahre habe ich mich überhaupt nicht wohl gefühlt und mich ständig gefragt, warum ich diesen Mist mache.“
„Und mit Deiner Freundin?“ fragte Anne.
Nick seufzte und schwieg einen Moment, um zu überlegen.
„Das habe ich mir lange was vorgemacht. Die ersten Monate waren sehr schön, dann war der erste Zauber dahin. Wir machten immer weniger zusammen. Sie trieb sich fast jeden Abend irgendwo rum, meist bei ihren zahlreichen Bekannten. Ich war dagegen meistens zu Hause. In Hameln kannte ich noch nicht viele Leute. Und neue Bekanntschaften zu machen oder sogar Freundschaften aufzubauen, ist mir immer schwergefallen. Und mit Freundin ist es noch schwerer.“
„Klar. Man ist ja nicht zusammen, um dann immer was mit anderen zu machen.“ bestätigte Anne.
„Tja, Sabine sah das nicht so. Sie brauchte das. Sie wollte möglichst viel erleben. Ich hätte das mal eher kapieren sollen, dann wäre ich nicht aus allen Wolken gefallen, als sie mir das Ultimatum stellte. Wobei, Ultimatum ist übertrieben. Sie hat mich ziemlich vor vollendete Tatsachen gestellt. Ich hätte mich schon sehr verändern müssen, um sie bei der Stange zu halten.“
Nick schwieg einen Moment.
„Erst war es ein Schock. Aber ich habe mich recht schnell berappelt. Und als ich ihr dann erzählte, dass ich allein wegfahren würde, habe ich sie überrascht.“
„Was willst Du nach dem Urlaub machen?“ fragte Petra.
„Hm, wenn ich gut bin, kündige ich tatsächlich gleich und ziehe am besten aus Hameln weg. Aber im Moment erscheint mir das total weit weg.“
Anne nickte: „Mir geht es ähnlich, seit Beginn des Urlaubs habe ich kaum an Zuhause gedacht oder daran, was mir nach dem Sommer bevorsteht. Jetzt denke ich hin und wieder daran, ohne mir vorstellen zu können, wie es jetzt konkret weitergeht. Vielleicht sind wir ja im Hyperraum gelandet und finden uns nächste Woche auf Beteigeuze 5 wieder. Auch wenn das unwahrscheinlich unwahrscheinlich wäre!“
Sie lachten, hatten offensichtlich alle die gleiche Erinnerung an ein Buch, in dem dieser Planet erwähnt wurde.
Das Band im Recorder lief weiter, sie hörten zu und schauten aus den Fenstern auf das schmale Band des Weges. Die Landschaft hatte sich die letzten 20 Kilometer nicht verändert. Rechts und links standen Büsche und kleinere Bäume, die ihnen zum Teil unbekannt vorkamen. Hohe bzw. alte Bäume schien es hier nicht zu geben.
Zwei Kilometer weiter sah Nick eine Einbuchtung in den Sträuchern am Rand und steuerte den Bulli in diese Nische.
„Das war ja wohl auch Quatsch, als wenn wir hier wen behindern würden!“ kommentierte Nick seine Handlung und musste lachen.
Sie machten eine ausgiebige Rast, packten dazu Tisch und Stühle aus, aßen Brot und Kekse. Mittlerweile war auch die Sonne wieder hervorgekommen und erwärmte die Luft wieder etwas.
Sie waren recht schweigsam, lediglich Mischa brabbelte in seinem Spiel vor sich hin.
Als Petra plötzlich laut sprach, erschreckten sich alle: „Sagt mal, wieso ist eigentlich noch keiner auf die Idee gekommen, mal das Radio anzumachen?“
Den anderen fiel es ebenso wie Schuppen aus den Haaren.
Petra war schon längst zum Bulli geeilt, stellte die Zündung an und das Radio. Auf der eingestellten Frequenz war nichts zu hören. Sie drückte auf die Tuning-Taste, die Ziffern liefen weiter bis sie schließlich am Ende des Bereiches angekommen waren. Nocheinmal lies sie den Sendersuchlauf durchlaufen.
„Ich verstehe das nicht! Da ist überhaupt kein Sender!“
„Vielleicht ist da beim Gewitter irgendwas kaputtgegangen.“, schlug Nick vor. Längs war auch Bernd an seinen Bulli getreten und hatte das Radio eingeschaltet. Auch er hatte keinen Erfolg.
„Versucht es doch mal mit Mittelwelle!“, lies sich Anne vernehmen.
Fast gleichzeitig drückten Petra und Bernd auf die entsprechenden Knöpfe, und fast gleichzeitig bekamen sie denselben Sender hinein. Fetzen einer etwas getragenen Musik waren zu hören, die keiner von ihnen kannte. Sie suchten das Mittelwelle-Band weiter ab und stießen noch auf zwei andere Sender, die ebenso undeutlich ihnen unbekannte Musik brachten. Schließlich schaltete Petra frustriert auf Kurzwelle. Das übliche Rauschen erklang mit den asphärischen Klängen. Nick erinnerte sich an seine Kindheit, in der er am liebsten das Kurzwellen-Band abgehört hatte. Die atmosphärischen Störungen und die fremdsprachigen Sender hatten ihn immer fasziniert.
Das laute Knacken, das Bernd erzeugte, als er das Radio entnervt abstellte, holte Nick wieder in die Gegenwart zurück. Die plötzliche Stille rauschte in den Ohren, keiner sagte etwas.
Eine ganze Weile hingen sie ihren Gedanken nach, grübelten nach einer Erklärung und fanden keine. Svenja hatte Tränen in den Augen und lies sich von Bernd in den Arm nehmen. Auch Nick hätte sich jetzt gerne in den Arm nehmen lassen.
Als erste fand Anne die Sprache wieder und rief: „Mensch Leute, das gibts doch nicht! Es muß doch irgendeine Erklärung geben. Es hilft jedenfalls nicht, wenn wir Trübsal blasen und warten, dass eine BILD-Zeitung mit allen Erklärungen vom Himmel fällt!“
Auch die anderen rappelten sich auf. Bernd stimmte Anne zu, und Hanna sagte: „Klar, du hast recht. Wir müssen weiter suchen.“
Zwei Stunden waren sie nun wieder unterwegs. Petra saß am Steuer und steuerte den Bulli das schmale Band des Weges entlang. Die drei hatten lange geschwiegen. Anne hatte in den Karten herumgesucht und Nick grübelnd geradeaus gestarrt.
„Wir sind doch die ganze Zeit nach Süden gefahren, nach Tacho über 120 Kilometer, dann müßten wir...“ Anne murmelte vor sich her.
„Also, verdammt, wir hätten längst eine von den großen Straßen treffen müssen. Die B 96 oder die B167. Oder eine Bahnlinie. Ich begreife das nicht!“, rief sie jetzt laut.
„Wir müßten sogar eigentlich schon im Dunstkreis von Berlin sein.“, ließ sich Petra vernehmen.
Nick hörte sich das schweigend an, er hatte sich die letzte halbe Stunde Gedanken gemacht, die er vielleicht besser nicht laut aussprach. Aber vielleicht lag er gar nicht so verkehrt.
„Und wenn Berlin da gar nicht ist, wo es sein soll?“, fragte er plötzlich.
Petra schüttelte nur den Kopf, während Anne ihn ungläubig anstarrte: „Wie meinst du das?“
„Ich habe mir zwei Möglichkeiten überlegt, die beide völlig verrückt klingen, aber das alles ein bisschen erklären.“
„Ja und?“, fragte Anne ungeduldig. „Nun sag schon!“
„Wir sind seit gestern vielleicht 180 Kilometer nach Südosten und Süden gefahren, haben aber nichts von dem angetroffen, was da eigentlich sein sollte: keine Orte, keine Straßen, keine Bahnlinie, nur dieser schmale Weg, der auch noch ganz schon zugewuchert aussieht. Dazu finden wir keinen Radiosender. Irgendwie gibt’s da nur eine haarsträubende Erklärung.“
„Jetzt spann uns nicht so auf die Folter!“, drängelte Petra.
Nick hob beschwichtigend die Arme und sagte langsam: „Die einzige plausible Erklärung ist, dass wir entweder nicht am richtigen Ort oder nicht in der richtigen Zeit sind.“
Während Petra das anschließende Schweigen nur durch ein „Uff!“ unterbrach, flüsterte Anne nach einer Gedankenpause: „Ach du Scheiße!“
„Genau!“, bestätigte Nick. „Bitte fragt mich nicht nach irgendwelchen Begründungen. Ich weiß selbst, dass das absolut hanebüchen ist. Die reinste Science-Fiction-Geschichte ist das.“
„Bisher habe ich sie immer gerne gelesen. Dass ich selbst mal in einer mitspielen würde, hätte ich nie geglaubt.“, sagte Anne. „Aber, so unwahrscheinlich das ist, es würde fast alles erklären.“
Petra zog die Stirn kraus. „Na ja, ein paar Sachen schon, aber nicht alles. Diese merkwürdigen Farben, das heftige Gewitter, unser Schwindelgefühl. Ich finde nicht, dass das alles erklärt ist.“
Die andern wussten dazu keine Entgegnung und schwiegen erstmal.
Anne dachte laut nach: „Wenn wir am falschen Ort sind, ist es klar, dass wir Berlin nicht finden und auch die anderen Orte und Straßen nicht. Moment, das Schild nach Gandenitz beweist ja wohl eindeutig, dass wir in der richtigen Gegend sind.“
„Also“, ergänzte Petra, „bleibt nur die Möglichkeit, dass wir in der falschen Zeit sind.“
„Aber, dann bliebe ja nur eine ferne Zukunft, sonst gäbe es das Schild nicht.“ meinte Anne.
„Und die Straße sieht mir auch moderner aus.“ ergänzte Nick.
Petra schüttelte den Kopf: „Aber das ist doch Wahnsinn!“
„Na klar, ist das Wahnsinn. Aber es ist im Moment die einzige Erklärung.“
Eine ganze Weile schwiegen sie und gaben sich ungeordneten Gedanken hin. Dachten diese Möglichkeit durch und vor allem auch die Konsequenzen.
„Ich will das einfach nicht glauben!“ ließ sich Petra schließlich vernehmen. Die beiden anderen stimmten ihr einerseits zu, wussten aber andererseits, dass es möglicherweise doch stimmte.
„Sollen wir mal anhalten, um den anderen unsere Vermutung zu erzählen?“ fragte Anne.
Petra schüttelte den Kopf: „Ich weiß nicht, was es nützen soll, die Kinder verrückt zu machen. Außerdem ist es nachher noch früh genug.“
Nick war der gleichen Meinung. So fuhren sie weiter. Inzwischen war die Sonne wieder herausgekommen und tauchte die Landschaft in ein strahlendes Licht, das schon merklich Rottöne enthielt.
Er brauchte eine Weile, um sich an das Fahren zu gewöhnen, da er etwas aus der Übung war und außerdem noch nie am Steuer eines Bullis gesessen hatte. Aber bald machte es ihm sogar ein bisschen Spaß, weil es überhaupt nicht stressig war und er sehr angenehm seinen Gedanken nachhängen konnte.
Nach einigen schweigsamen Minuten kramte Petra in den Kassetten und legte ein Band ein. Schon nach den ersten Takten Billy Joel zollte Anne gleich Beifall: „Oh ja, der kommt jetzt gut.“
Zwei, drei Stücke lang hörten sie der Musik zu und sahen sich die Landschaft an, die - außer der Straße - immer noch keine Spuren menschlicher Einflüsse zeigte. Da die Büsche über die Straß wucherten, konnten sie nur in die Ferne gucken, wenn sie über eine Kuppe fuhren.
„Wenn ich das in meinem Club erzähle...“
Anne und Nick verstanden Petras Spruch und lachten.
„Wahrscheinlich wird es keiner verstehen, was wir hier erleben“, meinte Anne. „Wir verstehen es ja selbst nicht. Aber diesen Zustand kenne ich zur Genüge aus meinem Studium.“
Nick grinste vor sich hin und dachte daran, dass er in diesem Urlaub gerade nicht Auto fahren wollte und vor allem eigentlich die Einsamkeit gesucht hatte. Jetzt saß er am Steuer eines Autos und musste mit zwei Frauen kommunizieren. Nein, „musste“ war der falsche Ausdruck. Er begann langsam wieder, Lust auf Kommunikation zu bekommen. Vielleicht noch nicht gleich die verbale.
Als wenn sie seine Gedanken gelesen hätte, fragte Petra die Frage, die ihm Anne am Vorabend schon gestellt hatte:
„Machst Du öfters Radtouren allein?“
Nick war es jetzt nicht mehr so unangenehm, darauf zu antworten.
„Nein, das ist das erste Mal. Ich hatte mal das Bedürfnis, mich nur mit mir selbst zu beschäftigen. Ich wollte mich nicht um die Befindlichkeiten anderer kümmern müssen.“
„Das ist aber Pech, dass Du es jetzt doch mußt!“ ließ sich Anne vernehmen.
„Nö, find ich nicht. In den letzten 24 Stunden habe ich festgestellt, dass mein Bedürfnis nach Einsamkeit mit der Qualität meiner Umgebung steht und fällt.“
Nick war fast genauso von seiner Formulierung beeindruckt, wie es offensichtlich die beiden anderen waren.
„Danke.“
Dieses eine Wort von Anne lief ihm wie ein Schauer den Rücken herunter. Er hatte es gar nicht so verklausuliert ausdrücken wollen, aber es traf die Sache auf den Punkt, und Anne hatte es verstanden. Und Petras Lächeln nach zu urteilen, das er bei seinem kurzen Blick zur Seite nicht übersah, diese auch.
Einer Gesprächspause vorbeugen wollend ließ Nick weiter seinen Gedanken freien Lauf: „Es ist faszinierend: Zu Hause war äußerlich alles klar. Ich wusste, wo ich hin musste bzw. sollte. Und darauf hatte ich keine Lust mehr. Hier weiß ich gar nichts mehr und finde gerade das sehr wohltuend.“
„War denn bei Dir wirklich alles so klar?“ fragte Anne.
„Nein, ich meinte ja nur äußerlich. Ansonsten war gar nichts klar. Meine Freundin hat mich vor zwei Wochen gerade derbe auf den Pott gesetzt und mir ein Ultimatum gestellt. Und an meinem letzten Arbeitstag eskalierte der Streit mit meinem Chef derart, dass er mir den Rat mit in den Urlaub gab, mich doch vielleicht nach einem andern Job umzusehen.“
„Oh jeh, das ist ja ganz schön heftig“, meinte Petra.
„Fand ich auch, inzwischen seh ich beides viel entspannter. Der Job war ohnehin nichts für mich. Die zwei Jahre habe ich mich überhaupt nicht wohl gefühlt und mich ständig gefragt, warum ich diesen Mist mache.“
„Und mit Deiner Freundin?“ fragte Anne.
Nick seufzte und schwieg einen Moment, um zu überlegen.
„Das habe ich mir lange was vorgemacht. Die ersten Monate waren sehr schön, dann war der erste Zauber dahin. Wir machten immer weniger zusammen. Sie trieb sich fast jeden Abend irgendwo rum, meist bei ihren zahlreichen Bekannten. Ich war dagegen meistens zu Hause. In Hameln kannte ich noch nicht viele Leute. Und neue Bekanntschaften zu machen oder sogar Freundschaften aufzubauen, ist mir immer schwergefallen. Und mit Freundin ist es noch schwerer.“
„Klar. Man ist ja nicht zusammen, um dann immer was mit anderen zu machen.“ bestätigte Anne.
„Tja, Sabine sah das nicht so. Sie brauchte das. Sie wollte möglichst viel erleben. Ich hätte das mal eher kapieren sollen, dann wäre ich nicht aus allen Wolken gefallen, als sie mir das Ultimatum stellte. Wobei, Ultimatum ist übertrieben. Sie hat mich ziemlich vor vollendete Tatsachen gestellt. Ich hätte mich schon sehr verändern müssen, um sie bei der Stange zu halten.“
Nick schwieg einen Moment.
„Erst war es ein Schock. Aber ich habe mich recht schnell berappelt. Und als ich ihr dann erzählte, dass ich allein wegfahren würde, habe ich sie überrascht.“
„Was willst Du nach dem Urlaub machen?“ fragte Petra.
„Hm, wenn ich gut bin, kündige ich tatsächlich gleich und ziehe am besten aus Hameln weg. Aber im Moment erscheint mir das total weit weg.“
Anne nickte: „Mir geht es ähnlich, seit Beginn des Urlaubs habe ich kaum an Zuhause gedacht oder daran, was mir nach dem Sommer bevorsteht. Jetzt denke ich hin und wieder daran, ohne mir vorstellen zu können, wie es jetzt konkret weitergeht. Vielleicht sind wir ja im Hyperraum gelandet und finden uns nächste Woche auf Beteigeuze 5 wieder. Auch wenn das unwahrscheinlich unwahrscheinlich wäre!“
Sie lachten, hatten offensichtlich alle die gleiche Erinnerung an ein Buch, in dem dieser Planet erwähnt wurde.
Das Band im Recorder lief weiter, sie hörten zu und schauten aus den Fenstern auf das schmale Band des Weges. Die Landschaft hatte sich die letzten 20 Kilometer nicht verändert. Rechts und links standen Büsche und kleinere Bäume, die ihnen zum Teil unbekannt vorkamen. Hohe bzw. alte Bäume schien es hier nicht zu geben.
Zwei Kilometer weiter sah Nick eine Einbuchtung in den Sträuchern am Rand und steuerte den Bulli in diese Nische.
„Das war ja wohl auch Quatsch, als wenn wir hier wen behindern würden!“ kommentierte Nick seine Handlung und musste lachen.
Sie machten eine ausgiebige Rast, packten dazu Tisch und Stühle aus, aßen Brot und Kekse. Mittlerweile war auch die Sonne wieder hervorgekommen und erwärmte die Luft wieder etwas.
Sie waren recht schweigsam, lediglich Mischa brabbelte in seinem Spiel vor sich hin.
Als Petra plötzlich laut sprach, erschreckten sich alle: „Sagt mal, wieso ist eigentlich noch keiner auf die Idee gekommen, mal das Radio anzumachen?“
Den anderen fiel es ebenso wie Schuppen aus den Haaren.
Petra war schon längst zum Bulli geeilt, stellte die Zündung an und das Radio. Auf der eingestellten Frequenz war nichts zu hören. Sie drückte auf die Tuning-Taste, die Ziffern liefen weiter bis sie schließlich am Ende des Bereiches angekommen waren. Nocheinmal lies sie den Sendersuchlauf durchlaufen.
„Ich verstehe das nicht! Da ist überhaupt kein Sender!“
„Vielleicht ist da beim Gewitter irgendwas kaputtgegangen.“, schlug Nick vor. Längs war auch Bernd an seinen Bulli getreten und hatte das Radio eingeschaltet. Auch er hatte keinen Erfolg.
„Versucht es doch mal mit Mittelwelle!“, lies sich Anne vernehmen.
Fast gleichzeitig drückten Petra und Bernd auf die entsprechenden Knöpfe, und fast gleichzeitig bekamen sie denselben Sender hinein. Fetzen einer etwas getragenen Musik waren zu hören, die keiner von ihnen kannte. Sie suchten das Mittelwelle-Band weiter ab und stießen noch auf zwei andere Sender, die ebenso undeutlich ihnen unbekannte Musik brachten. Schließlich schaltete Petra frustriert auf Kurzwelle. Das übliche Rauschen erklang mit den asphärischen Klängen. Nick erinnerte sich an seine Kindheit, in der er am liebsten das Kurzwellen-Band abgehört hatte. Die atmosphärischen Störungen und die fremdsprachigen Sender hatten ihn immer fasziniert.
Das laute Knacken, das Bernd erzeugte, als er das Radio entnervt abstellte, holte Nick wieder in die Gegenwart zurück. Die plötzliche Stille rauschte in den Ohren, keiner sagte etwas.
Eine ganze Weile hingen sie ihren Gedanken nach, grübelten nach einer Erklärung und fanden keine. Svenja hatte Tränen in den Augen und lies sich von Bernd in den Arm nehmen. Auch Nick hätte sich jetzt gerne in den Arm nehmen lassen.
Als erste fand Anne die Sprache wieder und rief: „Mensch Leute, das gibts doch nicht! Es muß doch irgendeine Erklärung geben. Es hilft jedenfalls nicht, wenn wir Trübsal blasen und warten, dass eine BILD-Zeitung mit allen Erklärungen vom Himmel fällt!“
Auch die anderen rappelten sich auf. Bernd stimmte Anne zu, und Hanna sagte: „Klar, du hast recht. Wir müssen weiter suchen.“
Zwei Stunden waren sie nun wieder unterwegs. Petra saß am Steuer und steuerte den Bulli das schmale Band des Weges entlang. Die drei hatten lange geschwiegen. Anne hatte in den Karten herumgesucht und Nick grübelnd geradeaus gestarrt.
„Wir sind doch die ganze Zeit nach Süden gefahren, nach Tacho über 120 Kilometer, dann müßten wir...“ Anne murmelte vor sich her.
„Also, verdammt, wir hätten längst eine von den großen Straßen treffen müssen. Die B 96 oder die B167. Oder eine Bahnlinie. Ich begreife das nicht!“, rief sie jetzt laut.
„Wir müßten sogar eigentlich schon im Dunstkreis von Berlin sein.“, ließ sich Petra vernehmen.
Nick hörte sich das schweigend an, er hatte sich die letzte halbe Stunde Gedanken gemacht, die er vielleicht besser nicht laut aussprach. Aber vielleicht lag er gar nicht so verkehrt.
„Und wenn Berlin da gar nicht ist, wo es sein soll?“, fragte er plötzlich.
Petra schüttelte nur den Kopf, während Anne ihn ungläubig anstarrte: „Wie meinst du das?“
„Ich habe mir zwei Möglichkeiten überlegt, die beide völlig verrückt klingen, aber das alles ein bisschen erklären.“
„Ja und?“, fragte Anne ungeduldig. „Nun sag schon!“
„Wir sind seit gestern vielleicht 180 Kilometer nach Südosten und Süden gefahren, haben aber nichts von dem angetroffen, was da eigentlich sein sollte: keine Orte, keine Straßen, keine Bahnlinie, nur dieser schmale Weg, der auch noch ganz schon zugewuchert aussieht. Dazu finden wir keinen Radiosender. Irgendwie gibt’s da nur eine haarsträubende Erklärung.“
„Jetzt spann uns nicht so auf die Folter!“, drängelte Petra.
Nick hob beschwichtigend die Arme und sagte langsam: „Die einzige plausible Erklärung ist, dass wir entweder nicht am richtigen Ort oder nicht in der richtigen Zeit sind.“
Während Petra das anschließende Schweigen nur durch ein „Uff!“ unterbrach, flüsterte Anne nach einer Gedankenpause: „Ach du Scheiße!“
„Genau!“, bestätigte Nick. „Bitte fragt mich nicht nach irgendwelchen Begründungen. Ich weiß selbst, dass das absolut hanebüchen ist. Die reinste Science-Fiction-Geschichte ist das.“
„Bisher habe ich sie immer gerne gelesen. Dass ich selbst mal in einer mitspielen würde, hätte ich nie geglaubt.“, sagte Anne. „Aber, so unwahrscheinlich das ist, es würde fast alles erklären.“
Petra zog die Stirn kraus. „Na ja, ein paar Sachen schon, aber nicht alles. Diese merkwürdigen Farben, das heftige Gewitter, unser Schwindelgefühl. Ich finde nicht, dass das alles erklärt ist.“
Die andern wussten dazu keine Entgegnung und schwiegen erstmal.
Anne dachte laut nach: „Wenn wir am falschen Ort sind, ist es klar, dass wir Berlin nicht finden und auch die anderen Orte und Straßen nicht. Moment, das Schild nach Gandenitz beweist ja wohl eindeutig, dass wir in der richtigen Gegend sind.“
„Also“, ergänzte Petra, „bleibt nur die Möglichkeit, dass wir in der falschen Zeit sind.“
„Aber, dann bliebe ja nur eine ferne Zukunft, sonst gäbe es das Schild nicht.“ meinte Anne.
„Und die Straße sieht mir auch moderner aus.“ ergänzte Nick.
Petra schüttelte den Kopf: „Aber das ist doch Wahnsinn!“
„Na klar, ist das Wahnsinn. Aber es ist im Moment die einzige Erklärung.“
Eine ganze Weile schwiegen sie und gaben sich ungeordneten Gedanken hin. Dachten diese Möglichkeit durch und vor allem auch die Konsequenzen.
„Ich will das einfach nicht glauben!“ ließ sich Petra schließlich vernehmen. Die beiden anderen stimmten ihr einerseits zu, wussten aber andererseits, dass es möglicherweise doch stimmte.
„Sollen wir mal anhalten, um den anderen unsere Vermutung zu erzählen?“ fragte Anne.
Petra schüttelte den Kopf: „Ich weiß nicht, was es nützen soll, die Kinder verrückt zu machen. Außerdem ist es nachher noch früh genug.“
Nick war der gleichen Meinung. So fuhren sie weiter. Inzwischen war die Sonne wieder herausgekommen und tauchte die Landschaft in ein strahlendes Licht, das schon merklich Rottöne enthielt.
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