Mittwoch, 11. Februar 2004
Das Land danach V
Sie stiegen wieder in die Bullis. Diesmal setzte sich Nick ans Steuer. Seine kurze, kaum ernstgemeinte Bemerkung, dass er ja seinen Führerschein gar nicht dabei habe, kommentierte Anne mit einem „Schwachsinn!“ - drastisch, aber realistisch.
Er brauchte eine Weile, um sich an das Fahren zu gewöhnen, da er etwas aus der Übung war und außerdem noch nie am Steuer eines Bullis gesessen hatte. Aber bald machte es ihm sogar ein bisschen Spaß, weil es überhaupt nicht stressig war und er sehr angenehm seinen Gedanken nachhängen konnte.
Nach einigen schweigsamen Minuten kramte Petra in den Kassetten und legte ein Band ein. Schon nach den ersten Takten Billy Joel zollte Anne gleich Beifall: „Oh ja, der kommt jetzt gut.“
Zwei, drei Stücke lang hörten sie der Musik zu und sahen sich die Landschaft an, die - außer der Straße - immer noch keine Spuren menschlicher Einflüsse zeigte. Da die Büsche über die Straß wucherten, konnten sie nur in die Ferne gucken, wenn sie über eine Kuppe fuhren.
„Wenn ich das in meinem Club erzähle...“
Anne und Nick verstanden Petras Spruch und lachten.
„Wahrscheinlich wird es keiner verstehen, was wir hier erleben“, meinte Anne. „Wir verstehen es ja selbst nicht. Aber diesen Zustand kenne ich zur Genüge aus meinem Studium.“
Nick grinste vor sich hin und dachte daran, dass er in diesem Urlaub gerade nicht Auto fahren wollte und vor allem eigentlich die Einsamkeit gesucht hatte. Jetzt saß er am Steuer eines Autos und musste mit zwei Frauen kommunizieren. Nein, „musste“ war der falsche Ausdruck. Er begann langsam wieder, Lust auf Kommunikation zu bekommen. Vielleicht noch nicht gleich die verbale.
Als wenn sie seine Gedanken gelesen hätte, fragte Petra die Frage, die ihm Anne am Vorabend schon gestellt hatte:
„Machst Du öfters Radtouren allein?“
Nick war es jetzt nicht mehr so unangenehm, darauf zu antworten.
„Nein, das ist das erste Mal. Ich hatte mal das Bedürfnis, mich nur mit mir selbst zu beschäftigen. Ich wollte mich nicht um die Befindlichkeiten anderer kümmern müssen.“
„Das ist aber Pech, dass Du es jetzt doch mußt!“ ließ sich Anne vernehmen.
„Nö, find ich nicht. In den letzten 24 Stunden habe ich festgestellt, dass mein Bedürfnis nach Einsamkeit mit der Qualität meiner Umgebung steht und fällt.“
Nick war fast genauso von seiner Formulierung beeindruckt, wie es offensichtlich die beiden anderen waren.
„Danke.“
Dieses eine Wort von Anne lief ihm wie ein Schauer den Rücken herunter. Er hatte es gar nicht so verklausuliert ausdrücken wollen, aber es traf die Sache auf den Punkt, und Anne hatte es verstanden. Und Petras Lächeln nach zu urteilen, das er bei seinem kurzen Blick zur Seite nicht übersah, diese auch.
Einer Gesprächspause vorbeugen wollend ließ Nick weiter seinen Gedanken freien Lauf: „Es ist faszinierend: Zu Hause war äußerlich alles klar. Ich wusste, wo ich hin musste bzw. sollte. Und darauf hatte ich keine Lust mehr. Hier weiß ich gar nichts mehr und finde gerade das sehr wohltuend.“
„War denn bei Dir wirklich alles so klar?“ fragte Anne.
„Nein, ich meinte ja nur äußerlich. Ansonsten war gar nichts klar. Meine Freundin hat mich vor zwei Wochen gerade derbe auf den Pott gesetzt und mir ein Ultimatum gestellt. Und an meinem letzten Arbeitstag eskalierte der Streit mit meinem Chef derart, dass er mir den Rat mit in den Urlaub gab, mich doch vielleicht nach einem andern Job umzusehen.“
„Oh jeh, das ist ja ganz schön heftig“, meinte Petra.
„Fand ich auch, inzwischen seh ich beides viel entspannter. Der Job war ohnehin nichts für mich. Die zwei Jahre habe ich mich überhaupt nicht wohl gefühlt und mich ständig gefragt, warum ich diesen Mist mache.“
„Und mit Deiner Freundin?“ fragte Anne.
Nick seufzte und schwieg einen Moment, um zu überlegen.
„Das habe ich mir lange was vorgemacht. Die ersten Monate waren sehr schön, dann war der erste Zauber dahin. Wir machten immer weniger zusammen. Sie trieb sich fast jeden Abend irgendwo rum, meist bei ihren zahlreichen Bekannten. Ich war dagegen meistens zu Hause. In Hameln kannte ich noch nicht viele Leute. Und neue Bekanntschaften zu machen oder sogar Freundschaften aufzubauen, ist mir immer schwergefallen. Und mit Freundin ist es noch schwerer.“
„Klar. Man ist ja nicht zusammen, um dann immer was mit anderen zu machen.“ bestätigte Anne.
„Tja, Sabine sah das nicht so. Sie brauchte das. Sie wollte möglichst viel erleben. Ich hätte das mal eher kapieren sollen, dann wäre ich nicht aus allen Wolken gefallen, als sie mir das Ultimatum stellte. Wobei, Ultimatum ist übertrieben. Sie hat mich ziemlich vor vollendete Tatsachen gestellt. Ich hätte mich schon sehr verändern müssen, um sie bei der Stange zu halten.“
Nick schwieg einen Moment.
„Erst war es ein Schock. Aber ich habe mich recht schnell berappelt. Und als ich ihr dann erzählte, dass ich allein wegfahren würde, habe ich sie überrascht.“
„Was willst Du nach dem Urlaub machen?“ fragte Petra.
„Hm, wenn ich gut bin, kündige ich tatsächlich gleich und ziehe am besten aus Hameln weg. Aber im Moment erscheint mir das total weit weg.“
Anne nickte: „Mir geht es ähnlich, seit Beginn des Urlaubs habe ich kaum an Zuhause gedacht oder daran, was mir nach dem Sommer bevorsteht. Jetzt denke ich hin und wieder daran, ohne mir vorstellen zu können, wie es jetzt konkret weitergeht. Vielleicht sind wir ja im Hyperraum gelandet und finden uns nächste Woche auf Beteigeuze 5 wieder. Auch wenn das unwahrscheinlich unwahrscheinlich wäre!“
Sie lachten, hatten offensichtlich alle die gleiche Erinnerung an ein Buch, in dem dieser Planet erwähnt wurde.
Das Band im Recorder lief weiter, sie hörten zu und schauten aus den Fenstern auf das schmale Band des Weges. Die Landschaft hatte sich die letzten 20 Kilometer nicht verändert. Rechts und links standen Büsche und kleinere Bäume, die ihnen zum Teil unbekannt vorkamen. Hohe bzw. alte Bäume schien es hier nicht zu geben.
Zwei Kilometer weiter sah Nick eine Einbuchtung in den Sträuchern am Rand und steuerte den Bulli in diese Nische.
„Das war ja wohl auch Quatsch, als wenn wir hier wen behindern würden!“ kommentierte Nick seine Handlung und musste lachen.
Sie machten eine ausgiebige Rast, packten dazu Tisch und Stühle aus, aßen Brot und Kekse. Mittlerweile war auch die Sonne wieder hervorgekommen und erwärmte die Luft wieder etwas.
Sie waren recht schweigsam, lediglich Mischa brabbelte in seinem Spiel vor sich hin.
Als Petra plötzlich laut sprach, erschreckten sich alle: „Sagt mal, wieso ist eigentlich noch keiner auf die Idee gekommen, mal das Radio anzumachen?“
Den anderen fiel es ebenso wie Schuppen aus den Haaren.
Petra war schon längst zum Bulli geeilt, stellte die Zündung an und das Radio. Auf der eingestellten Frequenz war nichts zu hören. Sie drückte auf die Tuning-Taste, die Ziffern liefen weiter bis sie schließlich am Ende des Bereiches angekommen waren. Nocheinmal lies sie den Sendersuchlauf durchlaufen.
„Ich verstehe das nicht! Da ist überhaupt kein Sender!“
„Vielleicht ist da beim Gewitter irgendwas kaputtgegangen.“, schlug Nick vor. Längs war auch Bernd an seinen Bulli getreten und hatte das Radio eingeschaltet. Auch er hatte keinen Erfolg.
„Versucht es doch mal mit Mittelwelle!“, lies sich Anne vernehmen.
Fast gleichzeitig drückten Petra und Bernd auf die entsprechenden Knöpfe, und fast gleichzeitig bekamen sie denselben Sender hinein. Fetzen einer etwas getragenen Musik waren zu hören, die keiner von ihnen kannte. Sie suchten das Mittelwelle-Band weiter ab und stießen noch auf zwei andere Sender, die ebenso undeutlich ihnen unbekannte Musik brachten. Schließlich schaltete Petra frustriert auf Kurzwelle. Das übliche Rauschen erklang mit den asphärischen Klängen. Nick erinnerte sich an seine Kindheit, in der er am liebsten das Kurzwellen-Band abgehört hatte. Die atmosphärischen Störungen und die fremdsprachigen Sender hatten ihn immer fasziniert.
Das laute Knacken, das Bernd erzeugte, als er das Radio entnervt abstellte, holte Nick wieder in die Gegenwart zurück. Die plötzliche Stille rauschte in den Ohren, keiner sagte etwas.
Eine ganze Weile hingen sie ihren Gedanken nach, grübelten nach einer Erklärung und fanden keine. Svenja hatte Tränen in den Augen und lies sich von Bernd in den Arm nehmen. Auch Nick hätte sich jetzt gerne in den Arm nehmen lassen.
Als erste fand Anne die Sprache wieder und rief: „Mensch Leute, das gibts doch nicht! Es muß doch irgendeine Erklärung geben. Es hilft jedenfalls nicht, wenn wir Trübsal blasen und warten, dass eine BILD-Zeitung mit allen Erklärungen vom Himmel fällt!“
Auch die anderen rappelten sich auf. Bernd stimmte Anne zu, und Hanna sagte: „Klar, du hast recht. Wir müssen weiter suchen.“

Zwei Stunden waren sie nun wieder unterwegs. Petra saß am Steuer und steuerte den Bulli das schmale Band des Weges entlang. Die drei hatten lange geschwiegen. Anne hatte in den Karten herumgesucht und Nick grübelnd geradeaus gestarrt.
„Wir sind doch die ganze Zeit nach Süden gefahren, nach Tacho über 120 Kilometer, dann müßten wir...“ Anne murmelte vor sich her.
„Also, verdammt, wir hätten längst eine von den großen Straßen treffen müssen. Die B 96 oder die B167. Oder eine Bahnlinie. Ich begreife das nicht!“, rief sie jetzt laut.
„Wir müßten sogar eigentlich schon im Dunstkreis von Berlin sein.“, ließ sich Petra vernehmen.
Nick hörte sich das schweigend an, er hatte sich die letzte halbe Stunde Gedanken gemacht, die er vielleicht besser nicht laut aussprach. Aber vielleicht lag er gar nicht so verkehrt.
„Und wenn Berlin da gar nicht ist, wo es sein soll?“, fragte er plötzlich.
Petra schüttelte nur den Kopf, während Anne ihn ungläubig anstarrte: „Wie meinst du das?“
„Ich habe mir zwei Möglichkeiten überlegt, die beide völlig verrückt klingen, aber das alles ein bisschen erklären.“
„Ja und?“, fragte Anne ungeduldig. „Nun sag schon!“
„Wir sind seit gestern vielleicht 180 Kilometer nach Südosten und Süden gefahren, haben aber nichts von dem angetroffen, was da eigentlich sein sollte: keine Orte, keine Straßen, keine Bahnlinie, nur dieser schmale Weg, der auch noch ganz schon zugewuchert aussieht. Dazu finden wir keinen Radiosender. Irgendwie gibt’s da nur eine haarsträubende Erklärung.“
„Jetzt spann uns nicht so auf die Folter!“, drängelte Petra.
Nick hob beschwichtigend die Arme und sagte langsam: „Die einzige plausible Erklärung ist, dass wir entweder nicht am richtigen Ort oder nicht in der richtigen Zeit sind.“

Während Petra das anschließende Schweigen nur durch ein „Uff!“ unterbrach, flüsterte Anne nach einer Gedankenpause: „Ach du Scheiße!“
„Genau!“, bestätigte Nick. „Bitte fragt mich nicht nach irgendwelchen Begründungen. Ich weiß selbst, dass das absolut hanebüchen ist. Die reinste Science-Fiction-Geschichte ist das.“
„Bisher habe ich sie immer gerne gelesen. Dass ich selbst mal in einer mitspielen würde, hätte ich nie geglaubt.“, sagte Anne. „Aber, so unwahrscheinlich das ist, es würde fast alles erklären.“
Petra zog die Stirn kraus. „Na ja, ein paar Sachen schon, aber nicht alles. Diese merkwürdigen Farben, das heftige Gewitter, unser Schwindelgefühl. Ich finde nicht, dass das alles erklärt ist.“
Die andern wussten dazu keine Entgegnung und schwiegen erstmal.
Anne dachte laut nach: „Wenn wir am falschen Ort sind, ist es klar, dass wir Berlin nicht finden und auch die anderen Orte und Straßen nicht. Moment, das Schild nach Gandenitz beweist ja wohl eindeutig, dass wir in der richtigen Gegend sind.“
„Also“, ergänzte Petra, „bleibt nur die Möglichkeit, dass wir in der falschen Zeit sind.“
„Aber, dann bliebe ja nur eine ferne Zukunft, sonst gäbe es das Schild nicht.“ meinte Anne.
„Und die Straße sieht mir auch moderner aus.“ ergänzte Nick.
Petra schüttelte den Kopf: „Aber das ist doch Wahnsinn!“
„Na klar, ist das Wahnsinn. Aber es ist im Moment die einzige Erklärung.“
Eine ganze Weile schwiegen sie und gaben sich ungeordneten Gedanken hin. Dachten diese Möglichkeit durch und vor allem auch die Konsequenzen.
„Ich will das einfach nicht glauben!“ ließ sich Petra schließlich vernehmen. Die beiden anderen stimmten ihr einerseits zu, wussten aber andererseits, dass es möglicherweise doch stimmte.
„Sollen wir mal anhalten, um den anderen unsere Vermutung zu erzählen?“ fragte Anne.
Petra schüttelte den Kopf: „Ich weiß nicht, was es nützen soll, die Kinder verrückt zu machen. Außerdem ist es nachher noch früh genug.“
Nick war der gleichen Meinung. So fuhren sie weiter. Inzwischen war die Sonne wieder herausgekommen und tauchte die Landschaft in ein strahlendes Licht, das schon merklich Rottöne enthielt.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Montag, 26. Januar 2004
Das Land danach IV
Irgendwann war er dann doch eingeschlafen. Als er aufwachte, war es hell; Regentropfen perlte die Scheiben hinunter, aber es trommelte nicht mehr auf das Dach. Swenja lag halb auf seinem Arm, und Anne lag mit ihrem Rücken an ihn gedrängt. Sonst konnte er beim Schlafen solche Enge nicht ertragen, jetzt genoß er es. Er schloß wieder die Augen und spürte die Geborgenheit, die von den anderen ausging.
Irgendwann ging es nicht mehr, er musste sich räkeln. Er zog seinen Arm unter Swenjas Kopf weg. Sie wachte auf und sah ihn an. Er strich ihr über den Kopf und lächelte sie an. Er flüsterte: „Mein Arm ist leider eingeschlafen, tut mir leid.“
Sie lächelte nun ebenfalls und schloß wieder die Augen.
Vielleicht eine halbe Stunde später kam Bewegung in den Menschenknäul. Petra streckte sich. Hanna war gerade dabei, Micha zur Seite zu schieben. Nick rieb sich die Augen: „Oh Mensch, war das eine Nacht!“
Petra nickte: „Die werde ich so schnell nicht vergessen!“
Neben Nick bewegte sich Anne, wälzte sich herum und machte die Augen auf. Im ersten Moment schien sie etwas irritiert zu sein. Dann glitt der Anflug eines Grinsens über ihr Gesicht und sie fragte: „Hat schon jemand Kaffee gekocht?“
„Wie dumm von mir, dass ich nicht schon aufgestanden bin, um Eurer Hoheit die Tasse zu reichen.“ Nick war erstaunt über sich selbst, fürchtete aber im nächsten Moment, nicht verstanden zu werden. Aber Anne grinste nun richtig und sagte: „Das üben wir aber noch!“
Hanna und Bernd öffneten die Tür und stiegen aus. Kühle Luft kam herein. Nick hätte sich am liebsten wieder im Schlafsack verkrochen. Zumal er überflüssigerweise leichte Hemmungen hatte, nur mit Slip bekleidet aus dem Schlafsack zu steigen. Als ihm aber einfiel, dass Anne auch nicht viel mehr anhaben konnte, stand er schnell auf, kletterte aus dem Bulli und suchte nach trockenen und vor allem wärmeren Sachen.

Komplett angezogen trat er aus dem Vorzelt heraus auf den Platz, wo schon Petra, Hanna und Bernd auch in dickere Sachen gehüllt standen und in die Gegend blickten. Die Landschaft schien sich verändert zu haben und dann wieder doch nicht. Vielleicht lag es daran, dass es bedeckt war und überall am Horizont dicke Wolken hingen. Und da waren zahlreiche Wunden, die das Gewitter in der Nacht geschlagen hatte. Bäume waren von Blitzen gefällt, Büsche vom Wind abgeknickt. Etwa 100m weiter hatte eine ganze Buschgruppe gebrannt. Nick wurde es wieder bewußt, was ihn auch gestern irritiert hatte: Es waren kaum Spuren der Zivilisation zu erkennen.
„Trotz allem, ich habe Lust auf ein gutes Frühstück!“ Petra brachte sie wieder ins Hier und Jetzt zurück und sprach allen aus der Seele. Mit Feuereifer machten sie sich daran, ein ansehnliches Frühstück mit viel heißem Kaffee zu zaubern. Es war, als hätte die Angst der letzten Nacht alle sehr hungrig gemacht. Sie aßen schweigend, die einen waren zum Reden zu müde, die anderen hingen ihren Gedanken nach. Schließlich waren alle gesättigt, Micha spielte mit den verkohlten Resten von Nicks Zelt, und Swenja stellte die Frage, die alle im Kopf hatten: „Und was machen wir jetzt? Müssen wir nicht nach dem nächsten Ort suchen?“
„Sicher, das ist das Wichtigste“, antwortete ihr Petra.
Auch Bernd nickte: „Wir werden am besten einfach losfahren, solange, bis wir einen Ort finden.“
„Oder der Sprit ausgeht“, lies sich Anne vernehmen.
„Ich glaube, das Risiko müssen wir eingehen. Es wird uns gar nichts anderes übrigbleiben“, stimmte auch Nick den anderen zu.
„Dann sollten wir gleich aufbrechen, damit wir möglichst weit kommen.“ Anne stand schon auf und begann das Geschirr zusammenzuräumen.
Ziemlich schnell war alles verstaut, Nick schaute noch mal auf die verkohlten Trümmer seines Zeltes und stieg zu Anne und Petra in den Bulli.

Der Weg war einförmig. Ein schmales Asphaltband, hin und wieder mit Schlaglöchern, rechts und links Büsche, Bäume und Heidelandschaft oder jedenfalls so eine Art. Desöfteren mussten sie anhalten, weil ein Ast auf dem Weg lag. Einige Male mussten sie alle zupacken und ihn mit vereinten Kräften zur Seite räumen. Zwischendurch krochen sie mit knapp 50 dahin. Anne saß am Steuer, mit den Ellbogen auf dem Lenkrad, ruhig ohne Hektik.
Nick brach das Schweigen: „Ist so ein Medizin-Studium eigentlich so schwierig, wie die Nichtmediziner immer glauben?“
Anne rollte etwas die Augen: „Ja und Nein. Ja, weil ich, wenn ich mal wieder eine fleißige Phase habe, nichts anderes tun kann, und Nein, weil alle nur mit Wasser kochen, auch die Halbgötter in Weiß!“
„Das glaub ich Dir sofort. Gerade die, die besonders unfehlbar erscheinen, sind bei näherem hinsehen auch nur einfache Menschen. Das sehe ich ständig bei meinem Chef.“
„Da lob ich mir unsere Oberschwester. Die weiß, dass sie nicht alles weiß, obwohl sie erstaunlich viel weiß!“ Über Petras Einwand mussten alle drei lachen.
„Wie lange studierst Du schon?“
„Oh je, willst Du das wirklich wissen? Fast vier Jahre habe ich gebraucht, um das Physikum zu überstehen.“
„Und vorher?“
„Vorher? Wie alt schätzt Du mich denn?“
„Sagen wir mal sechsundzwanzig.“
„Bingo, fast richtig. Ein Jahr mußt Du noch drauflegen. Tja und vorher war ich Hausfrau.“
Nick blickte sie zweifelnd, oder besser gesagt verblüfft an.
„Ja, wirklich. Ich habe zwei Wochen nach dem Abi geheiratet und mich drei Jahre später wieder scheiden lassen. Glücklicherweise habe ich von ihm kein Kind gekriegt.“
„War er so schlimm?“
„Nicht richtig schlimm, ich hab mich einfach nur total geirrt. Ich habe mich blenden lassen von seiner Fassade. Ich fand ihn witzig und stark, romantisch und vor allem ehrlich. Nur als ich dann feststellte, dass er mich ständig anlog, gingen mir langsam die Augen auf. Dass er gar nicht so stark war, hätte ich noch verkraften können, aber dass er mir immer nur etwas vorspielte, habe ich nicht ausgehalten. Na ja, und dass ich nicht zur Nur-Hausfrau tauge, habe ich dann auch schnell gemerkt.“
„Konntest Du etwa seine Socken nicht vernünftig stopfen?“
„Ne, aber später dann sein Maul!“
„Das glaub ich Dir aufs Wort.“
Nick glaubte schon, etwas zu weit gegangen zu sein, aber Anne nahm seinen Kommentar grinsend auf. Auch Petra lächelte und meinte: „Es macht ja irgendwie richtig Spaß, Euch zuzuhören!“
Für einen Moment schwiegen alle drei und blicken intensiver nach draußen. Das Wetter hatte sich etwas gebessert. Die Wolken rasten nicht mehr so schnell und ließen ab und zu sogar die Sonne durch. Das Thermometer zeigte allerdings weiterhin nur 9 Grad, nach den letzten heißen Tagen kam ihnen diese Temperatur besonders eisig vor.
Nach ein paar hundert Metern hielt der Bulli vor ihnen an einer Weggabelung plötzlich an. Bernd stieg aus und winkte ihnen. Sie verließen ebenfalls den Bulli und sahen, was Bernd so interessant fand: Ein verwaschenes Schild lag dort auf dem Weg. Der Pfeiler des Schildes war völlig unter dem Gestrüpp am Rand der Straße verschwunden. Sie zerrten es heraus und sahen es sich genauer an. Die Farbe war größtenteils abgeblättert. Zu erkennen waren nur noch wenige Buchstaben: „...nde..it......7.km“.
„Hol mal schnell die Karte!“ rief Petra Anne aufgeregt zu. Anne lief sofort zum Auto und wühlte in den Karten herum. Mit einem ganzen Stapel kam sie wieder. Sie griffen sich zuerst die Karte von der Gegend, wo sie meinten, sein zu müssen.
„Gandenitz!“ Petra hatte den Ort zuerst entdeckt. „Das ist ja gar nicht weit weg von Warthe.“
„Aber was ist das für eine Entfernungsangabe?“ fragte Nick. Er kratzte auf dem Schild herum. „Habt Ihr vielleicht einen Bleistift?“
Petra kramte in ihrer Jackentasche und holte einen Stummel heraus.
Anne nahm ihr den Stummel aus der Hand und strich damit über das Schild. Langsam wurde eine 4 sichtbar.
„Was, 47 km? Das kann ja kaum sein. In welcher Richtung sind wir denn dann?“ Petra suchte auf der Karte herum. Die andern wussten auch keinen Rat. Nach der Karte konnte es dieses Schild gar nicht geben, weil die nächsten Orte viel dichter lagen.
„Wir sollten trotzdem versuchen, dem Schild zu folgen!“, meinte Bernd. „Wir brauchen ja schließlich irgendeinen Anhaltspunkt.“
Nick untersuchte währenddessen den Wegrand und schob das Gestrüpp mit dem Fuß beiseite. Er fand das abgebrochene Ende des Pfeilers. Er nahm das Schild, um auszuprobieren, in welcher Stellung es paßte.
„Hier hat das Schild gestanden, also zeigt es in...“ Er brach ab, weil es nicht paßte. Er zeigte in die Richtung, und die anderen wussten, warum er nicht zu ende gesprochen hatte. Das Schild hatte nicht auf einen Weg, sondern ins Leere gezeigt.

„Ich komme mir langsam ziemlich verarscht vor!“ Petra war richtig ärgerlich. „Ich möchte mal wissen, was hier los ist. Seit anderthalb Tagen haben wir keinen Menschen mehr gesehen, wir wissen nicht, wo wir sind, und das Wetter spielt auch verrückt. Das soll mal noch einer begreifen.“
Die anderen sahen sich betreten an. Keiner wusste eine Antwort, selbst von Anne kam kein Spruch. Mischa schaute die Erwachsenen ängstlich an, drängte sich an seine Mutter und scharrte mit einem Fuß.
Swenja fragte vorsichtig: „Habt Ihr echt keine Idee, wohin wir fahren müssen?“
Bernd raffte sich als erster zu einer Antwort auf: „Nein, wir wissen es nicht. Aber wir sollten hier trotzdem nicht Wurzeln schlagen. Laßt uns versuchen, in eine Himmelsrichtung zu fahren. Westen kann dabei nicht schaden, vielleicht kommen wir dann ja irgendwann nach Hause.“
Die anderen nickten. Nick ebenso, obwohl er gleichzeitig dachte: Was soll ich zu Hause, ich fühle mich hier sehr wohl. Aber die anderen hätten es wahrscheinlich nicht verstanden, wenn er es laut ausgesprochen hätte.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Donnerstag, 8. Januar 2004
Das Land danach III

Sie hatten sein Fahrrad verpackt, und er saß im kleineren Bulli neben Petra und Anne, die am Steuer saß. Der größere Bulli mit den anderen vier fuhr voraus, hielt aber bald an einer Stelle, die ideal zum Campieren einlud: eine etwas höher gelegene Fläche, an zwei Seiten mit Sträucher geschützt, nach Westen hin offen in die Ebene. Die beiden Bullis wurden geschickt rechtwinklig geparkt und schließlich ausgepackt: zwei kleine Tische, Klappstühle, ein Vorzelt verband die beiden Bullis. Nick packte sein Zelt aus und baute es daneben auf, gut geschützt, wogegen, wusste er allerdings nicht.
Schließlich machten sie Essen, und Nick erfuhr dabei Näheres über die anderen. Hanna und Bernd waren verheiratet, Swenja und Micha ihre Kinder, so hatte es Nick auch schon vermutet. Anne war Bernds Schwester und Petra ihre Freundin. Seit einer Woche waren sie unterwegs und zuhause in Dortmund. Er selbst erzählte wenig von sich. Im Moment hatte er keine Lust, weil er vermutlich alles hätte erzählen müssen, was ihn bewegte, und dazu erschien es ihm noch zu früh.
Beim Essen kam Nick wieder auf ihre Lage zu sprechen: „Immerhin ist es nett, dass sich wenigstens die Sonne normal verhält und korrekt untergeht.“
„Die Sonne ist ja schließlich deutsch.“ Anne schien einen Hang zum Ironisch-sarkastischem zu haben.
„Ich will Dir ungern widersprechen, aber astronomisch ist das nicht korrekt.“ Nick reizten ihre Sprüche, und die anderen nahmen ihre kleinen Wortgefechte dankbar schmunzelnd auf.
Die Sonne scherte sich nicht drum und ging unter, prachtvoll gigantisch, in leuchtenden Farben...
„Spinn ich? Was sind das für Farben?“
Nick runzelte selbst fragend die Stirn nach Hannas Fragen. Die anderen schienen aber auch irritiert.
„Was ist denn los?“, fragte Nick.
„Siehst Du diese Farben nicht?“
„Mir fällt da nichts auf, außer dass es ein Sonnenuntergang zum Fotografieren ist. Aber, ich gehöre auch zu den 8% der Männer mit Rot-Grün-Schwäche.“
Anne blickte ihn an: „Genau darum geht’s: Der Himmel ist grün!“

Zwei Petroleumlampen erhellten ihren Rastplatz, die Dämmerung war fast vorbei, nur im Norden war noch der für diese Jahreszeit übliche helle Streifen erkennbar. Micha schlief bereits im Alkoven des Bullis, Swenja war noch nicht dazu zu bewegen. Die fünf Erwachsenen saßen etwas beklommen herum, jeder schien für den Moment mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Es war eine seltsame Situation, zwar nicht direkt bedrohlich, aber rätselhaft und daher leicht beängstigend.
Plötzlich stand Anne mit einem Ruck auf: „Möchte jemand vielleicht auch einen Schluck Wein?“
Die anderen nahmen das Angebot dankbar an, auch Swenja bekam ein Glas.
Der Alkohol schien sie ein wenig zu entspannen, und Nick hatte Lust etwas mehr über die anderen zu erfahren. „Was treibt Ihr denn so zum Broterwerb?“
Petra antwortete zuerst: „Ich verhindere tapfer den Pflegenotstand, und irgendwann wird Anne vielleicht mal meine Chefärztin.“ Anne verzog angesichts dieser kleinen Stichelei das Gesicht. „Irgendwann ist gut. Wenn ich so weitermache, bist Du dann schon in Rente.“
„Na, nun übertreibs mal nicht. Das Physikum hast Du doch schon, das ist immerhin schon etwas.“ Hanna schien in dieser Runde die Rolle der Optimistin zu haben. „Ich wäre auch nicht weiter, wenn ich mich nach der Ausbildung noch an ein Studium gewagt hätte.“
„Was machst Du?“, fragte Nick.
„Seit drei Jahren arbeite ich wieder halbtags als Erzieherin, vorher war Kinderpause angesagt.“
„Dann seit Ihr ja alle irgendwie in sozialen Berufen.“
„Nicht alle“, ließ sich Bernd vernehmen. „Als Dozent an der Uni darf mensch nicht immer sozial sein.“
„In welcher Richtung?“
„In der Journalistik-Fakultät.“
„Ach ja, mit dem Gedanken hatte ich auch mal gespielt. Aber dann bin ich bei der Landespflege in Höxter gelandet.“ Nick musste ja auch endlich mal etwas von sich preisgeben. „Seit zwei Jahren arbeite ich in einem Gartenarchitekten-Büro in Hameln.“
„Ach, Du bist ein Waldfeger!“ Anne hatte wohl langsam Entzugserscheinungen bekommen und musste mal wieder einen Spruch machen.
„Schön wär’s, wenn ich was mit Wald zu tun hätte. Mein Chef versorgt leider die High Society mit Rhododendron, Cotoneaster und Edelkoniferen.“
„Klingt furchtbar, auch wenn ich keine Ahnung habe.“ Petra schenkte sich noch Wein nach.
„Ist es auch, manchmal finde ich, dass auch bei Pflanzen Nomen est omen ist.
„Da die ihre Namen von uns Menschen haben, ist das ja auch kein Wunder!“, ließ sich Anne vernehmen.
Nick stand auf, weil ihn seine Blase drängte. Er ging seitlich um die Büsche herum, bis er mit einem Blick nach Südosten in die Landschaft pinkeln konnte. In der Ferne sah er kaum noch etwas, keine Lichter, keine Autoscheinwerfer. So etwas kannte er bisher nicht. Normalerweise war die Zivilisation allgegenwärtig, zumindest in Mitteleuropa. Allerdings blitzte es in der Ferne. Das Gewitter schien hinter dem Horizont zu sein. Einzelne Blitze konnte er nicht erkennen.
„Es ist immer noch was Grünes dahinten.“
Nick erschrak, als er Anne Stimme hinter sich hörte; er hatte sie nicht kommen hören.
„Was meinst Du?“
„Siehst Du das wirklich nicht?“, Anne stellte sich neben ihn und zeigte in die Ebene. „Diese Blitze sind grün.“
„Tja, damit hab ich halt meine Schwierigkeiten.“
„Aber Du kannst doch Farben sehen?“ Anne konnte sich das nicht so richtig vorstellen, auch wenn sie die Theorie aus ihrem Studium kannte.
„Natürlich sehe ich Farben. Ich kann nur bestimmte Farbtöne, vor allem Rot, Grün und Braun schlecht unterscheiden. Rot leuchtet z.B. nicht so intensiv für mich. Und das die Blitze grün sind oder jedenfalls die Wolken, fällt mir halt nicht auf.“
„Entschuldige, wenn ich Dich jetzt genervt habe. Aber, wenn es einem selbst anders geht, kann mensch es erstmal nicht verstehen.“
Nick nickte, diesen Dialog hatte er nicht zum ersten Mal geführt. Er registrierte dankbar, dass Anne etwas Verständnis zeigte und nicht weiter insistierte. Andere hätten ihn jetzt wahrscheinlich gezielt nach irgendwelchen Farben gefragt. Dieser „Quiz“ war das einzige, was ihn an seiner Farbenschwäche störte. Anne schien zwar gerne sehr frech zu sein, war aber keineswegs unsensibel.
Beide standen einen Moment schweigend nebeneinander und bewunderten das Wetterleuchten. Schließlich räusperte sich Anne.
„Fährst Du öfter allein mit dem Fahrrad los?“
Nick fiel es meist schwer über sich zu erzählen. Er hatte gerade die letzten Wochen erfolgreich verdrängt. Dass ihn diese Frau, die er gerade mal neun Stunden kannte, so fragte, irritierte und nervte ihn einerseits, andererseits freute er sich über ihr Interesse.
„Eigentlich mache ich das zum ersten Mal. Ich hatte bloß in letzter Zeit ein paar Probleme mit meiner Umgebung und wollte mich davon etwas erholen.“ Nick hoffte, dass diese Formulierung Anne davon abhalten würde, noch weiter zu fragen.
Tatsächlich blieb Anne stumm. Kein Spruch ihrerseits, vielleicht hatte sie für heute ihr Pulver verschossen. Vielleicht konnte sie aber auch anders. Nein, ganz bestimmt konnte sie das, dachte Nick.
Ein besonders greller Blitz, dessen Verästelung aber nicht zu sehen waren, ließ seinen Widerschein auf der Landschaft, so dass alles noch unwirklicher erschien.
„Ich habe so etwas noch nicht gesehen“, sagte Anne leise in die Landschaft. Nick brummte eine Zustimmung.
„Heute nachmittag, als wir hinter Dir hergefahren sind, hätten wir fast einen Unfall gebaut. Mir ist schwindelig geworden, gerade in dem Moment, als Hanna bremst, weil sie sich erschreckte. Jedenfalls bin ich fast auf sie drauf gefahren. Und das merkwürdigste war, dass alle diesen Schwindel gespürt haben.“
Nick hatte fasziniert zugehört. „Mir war auch schwindelig. Bloß, dass ich dann vom Rad gefallen bin.“
Anne war zu nachdenklich, um darüber zu schmunzeln.
„Hast Du irgendeine Idee, was hier los sein könnte?“
Nick ließ sich mit der Antwort etwas Zeit.
„Es kommt mir alles so unwirklich vor, dass ich mir sage, morgen wachen wir von Autolärm auf und sind nur einen Kilometer vom nächsten Ort entfernt. Zum Frühstück gibt es Brötchen vom Bäcker.
Ich dachte zwischendurch schon, dass ich anfange zu phantasieren, weil ich solange allein unterwegs war.“
„Solche Gedanken, dass alles nur ein böser oder zumindest merkwürdiger Traum ist, sind mir auch schon gekommen. Aber ich muß schon weiterdenken. Was passiert, wenn wir keinen Ort finden? Nicht nur morgen, sondern auch die nächsten Tage nicht? Unsere Vorräte reichen vielleicht noch fünf Tage, das Wasser noch höchstens drei.“
„Wieviel Sprit habt Ihr denn noch?“
„Och, der reicht noch 600 oder 700 Kilometer.“
Nick seufzte: „Na, wenn das nicht reicht, ist sowieso alles egal.“
Es kam Wind auf, ziemlich plötzlich, und trieb ihnen Staub ins Gesicht. Sie gingen um die Büsche zurück zum Rastplatz. Dort waren die andern schon damit beschäftigt aufzuräumen.
„Ich frage mich, ob es so klug war, dass wir uns hier auf die Anhöhe gestellt haben. Wenn das Gewitter richtig zu uns kommt, wird es in Deinem Zelt bestimmt ungemütlich“, meinte Petra.
„Irgendwie macht es nicht den Eindruck, dass es richtig näherkommt.“
„Na, Gewitter sind unberechenbar. Jedenfalls kannst Du von mir aus zu uns in den Bulli kommen, wenn es zu schlimm wird.“
Anne nickte: „Klar. Am besten, Du packst Dich gleich ins Vorzelt, dann kann nicht viel passieren.“
Nick nahm das Angebot dankbar an. Während er seine Siebensachen aus seinem Zelt ins Vorzelt trug, befestigten Petra, Hanna und Bernd zusätzliche Schnüre am Vorzelt. Nick richtete es sich in einer Ecke gemütlich ein und rollte seinen Schlafsack aus. Als er mit seinem Arm in die Nähe einer Vorzeltstange kam, spürte er, wie sich seine Haare aufrichteten.
„Faßt mal an eine der Stangen!“ riet er den anderen.
„Da liegt ja mächtig was in der Luft“, bestätigte Petra.
„Vielleicht sehen wir ja noch ein paar Elms-Feuer“, hoffte Bernd.
„Aber in unseren Breiten wäre das ja eigentlich sehr ungewöhnlich.“
„Besonders viel scheint hier ja nicht mehr gewöhnlich zu sein“, ließ sich Anne vernehmen.
Nick ging noch einmal vor das Zelt und blickte in die Ebene. Das Gewitter schien zwar immer noch nicht näher gekommen zu sein, aber es lag eine Spannung in der Luft, die er selbst in Südfrankreich bei den dort sehr heftigen Gewittern noch nicht erlebt hatte. Aus einem Instinkt heraus ging er noch einmal zu seinem Zelt und holte sämtliche Sachen. Dann kroch er in seinen Schlafsack und wünschte den anderen eine gute Nacht.
„Schlaf Du auch gut. Aber sobald das Gewitter näher kommt, kommst Du in den Bulli, klar?“ Anne war sehr bestimmt.
„Natürlich, mein Mut hält sich heute in Grenzen.“

Es war schon eine Weile völlig ruhig in den beiden Bullis. Nur der recht starke Wind rüttelte am Vorzelt und veranstaltete einen ziemlichen Lärm. Aber Nick hätte wahrscheinlich auch bei absoluter Ruhe nicht schlafen können. Er war zu überdreht, seine Gedanken schlugen zu viele Kapriolen. In seinem Kopf kämpften sozusagen mehrere Sachen miteinander. Da war seine unbefriedigende Situation zu Hause, der er seit einer Woche zu entfliehen versuchte, da war die Gegenwart: einerseits mit absolut unerklärlichen Begebenheiten, andererseits mit einer Begegnung, genauergesagt mehreren, die ihn in eine merkwürdige Hochstimmung versetzte. Wahrscheinlich hatte er sich noch nie in einer Gruppe so wohl gefühlt. Jedenfalls ertappte er sich bei dem Gedanken daran, dass diese ungeklärte Situation gerne noch eine Weile andauern durfte.

Er schien doch eingeschlafen zu sein, denn der gewaltige Donnerschlag, der zeitgleich mit einem grellen Blitz herniederkrachte, holte ihn aus den tiefsten Niederungen des Tiefschlafs. Er schreckte hoch, stand senkrecht in seinem Schlafsack und fühlte sich ziemlich taub. Gleichzeitig spürte er seine weichen Knie. Langsam kehrte sein Gehör zurück. Instinktiv legte er die Finger auf die Ohren und konnte sie deshalb vor dem nächsten Donnerschlag noch rechtzeitig zudrücken. Der Blitz schien ihm so nah gewesen zu sein, dass er meinte, ihn riechen zu können.
Er rollte schon seinen Schlafsack zusammen, als sich die Bulli-Tür öffnete und Petras Kopf sichtbar wurde: „Ist mit Dir alles klar?“
„Ja, noch hat mich kein Blitz getroffen. Aber ich glaube, ich komme lieber zu Euch rein.“
Auch die Tür des anderen Bullis öffnete sich. Bernd kletterte heraus: „Oh weh, das scheint...“
Ein weiterer gewaltiger Donnerschlag unterbrach ihn.
„Scheiße, ich traue unserem Wagen nicht, er ist vielleicht kein richtiger Faraday’scher Käfig. Der Alkoven ist aus Plastik. Ich glaube, wir sollten auch zu Euch kommen.“
Innerhalb von zwei Minuten waren alle im kleinen Bulli. Dichtgedrängt tummelten sie sich auf der Liegefläche, wo ein paar Minuten zuvor Petra und Anne noch friedlich geschlafen hatten. Es war zwar eng, dafür umso gemütlicher. Nick saß zwischen Swenja und Petra am hinteren Ende gegenüber von Bernd, Anne, Hanna und Micha, der sich an seine Mutter klammerte.
Weitere Blitze mit entsprechend lauten Donnerschlägen gingen hernieder. Regen prasselte auf das Bulli-Dach. Mensch konnte kaum ein Wort verstehen, aber zum Reden war ohnehin niemand zu Mute.
Bei einem besonders heftigen Donner klammerte sich Swenja an seinen Arm. Reflexartig legte er seinen Arm um sie, was sie etwas zu beruhigen schien. Er sah, dass sich auch die anderen aneinander festhielten, und es war plötzlich selbstverständlich für ihn, dass er mit der freien Linken Petras Hand nahm, die seine sofort drückte. Trotz der Angst, die ihn gepackt hatte, durchfloss ihn schon wieder ein Glücksgefühl. Er fand es etwas pervers, aber er überlegte sich, was ihm schon passieren konnte.
Außer den heftigen Schlägen, die glücklicherweise im Bulli leicht gedämpft ankamen, rüttelte der Wind immer heftiger an dem Fahrzeug. Regen klatschte an die Scheiben. Micha schluchzte in den Armen seiner Mutter, und die anderen blieben zwar ruhig, machten aber einen nicht minder aufgeregten Eindruck. Plötzlich durchbrach Annes Stimme die kurzzeitige Stille: „Ich hätte nicht gedacht, dass ich bei einem Gewitter noch mal so viel Schiss haben würde.“
Sie sprach allen aus der Seele, aber ein bißchen beruhigte Nick ihr Tonfall.
Wie, um dieses Gefühl ad absurdum zu führen, schien direkt neben dem Bulli ein Blitz niederzugehen. Der nahezu zeitgleiche Donnerschlag machte alle taub, die Augen tränten.
Swenjas Hand verkrampfte sich schmerzhaft in Nicks Arm, so dass er sie heftig an sich drückte und versuchte, beruhigend auf sie einzuflüstern.
„Oh Gott! Da brennt was!“ Petra schob den Vorhang beiseite und zeigte in die Richtung, in der Nicks Zelt stand. Ein Baum stand in hellen Flammen; aber nicht nur der Baum auch am Boden brannte etwas: sein Zelt.

Bernd, Anne und Nick dachten offensichtlich sofort dasselbe. Sie ergriffen jeder ein Stück Stoff, rissen die Tür auf und rannten durch das Vorzelt in Richtung des Feuers. Sie kamen keine Minute zu spät. Die Flammen hatten gerade die Unterkante des Vorzelts erreicht. Die drei stürzten sich darauf und schlugen auf die Flammen ein. Diese Sofortmaßnahme und der heftig fallende Regen taten ihr übriges: Die Flammen am Vorzelt erloschen. Dann machten sich die drei daran, auch die brennenden Reste des Zeltes zu löschen. Schließlich blies der Wind immer wieder Glut heran, die der Regen nicht immer löschen konnte. Brennender Kunststoff war tückisch.
Nach ein paar Minuten schien die gröbste Gefahr beseitigt. Dass sie sich die ganze Zeit den Blitzen ausgesetzt hatten, kam Nick gerade zu Bewusstsein, als wie zur Bestätigung wieder eine grelle Feuersäule in der Nähe aufleuchtete. Nick glaubte zu sehen, dass sie tatsächlich eher aus dem Boden zu wachsen schien, als herab zu sausen. Völlig betäubt eilten die drei zurück unter das Vorzelt. Während die andern beiden gleich wieder in den Bulli stiegen, blieb Nick einen Moment am Zeltrand stehen und versuchte rauszublicken. Er konnte nicht weit sehen, weil der Regen in dichten Schleiern fiel. Wenn ein Blitz die Szenerie erleuchtete, zeigte sich aber die gespenstisch gebeutelte Landschaft. Mühsam riss er sich von diesem Anblick los und kletterte in den Bulli.
Drinnen wurden sie erleichtert empfangen, zogen sich die nassen Klamotten aus und krochen in Decken und Schlafsäcke, um sich aufzuwärmen, da es draußen empfindlich kühl geworden war.
Nick saß wieder neben Swenja, die sich dankbar an ihn lehnte. An seiner anderen Seite war jetzt Anne. Aus irgendeinem Grund scheute er sich, zu dicht an sie heranzurücken. Trotzdem berührten sie sich, was ihn wieder warm werden ließ.
Nach einer langen halben Stunde schien das Gewitter langsam an Energie zu verlieren. Jedenfalls waren die Donnerschläge nicht mehr so heftig, dass mensch jedes Mal zusammenzuckte. Entspannung machte sich breit, aber niemand dachte daran, sich jetzt wieder zu trennen. Es war zwar eng, aber alle schienen sich wohlzufühlen, hatten irgendwie eine bequeme Position eingenommen. Micha schlief bereits wieder, den Kopf auf Hannas Bauch, während Hanna ihren auf Bernds Bauch gelegt hatte.
Nick döste vor sich hin. Bei jedem, auch leiserem Donner öffnete er die Augen. Er konnte einfach in solchen Situationen nicht schlafen. Das Adrenalin in seinem Blut war noch nicht abgebaut. Aber, im Gegensatz zu sonst litt er jetzt nicht darunter. Er träumte vor sich hin von Dingen, die er jetzt um keinen Preis der Welt laut ausgesprochen hätte.

... link (1 Kommentar)   ... comment